Das Fahrrad als Symbol der Emanzipation

Seit genau 50 Jahren haben Frauen in der Schweiz das Stimmrecht. Dennoch muss noch viel geschehen für die Gleichberechtigung. Emanzipationsbewegungen und der Kampf für die Gleichberechtigung haben jedoch einen viel älteren Ursprung. Auch das Fahrrad war in der Emanzipationsgeschichte ein wichtiges Symbol. Und ist es bis heute geblieben.

Das Fahrrad bewegt. Es ist nicht wegzudenken aus unserer Gesellschaft. Doch historisch hat das Fahrrad noch eine viel wichtigere Bedeutung. Es hat die Emanzipation und die Rolle der Frau in der Gesellschaft geprägt wie kein anderes Fortbewegungsmittel.

Die Mountainbikerin auf dem Downhill-Trail, die Pendlerin auf dem Weg zur Arbeit. Die Rennradfahrerin auf einer Bergetappe. Was heute ein ganz normales Bild ist, war lange keine Selbstverständlichkeit.

Das Fahrrad hat eine lange und bewegte Geschichte und war massgeblich an der Grundsteinlegung früher Emanzipationsbewegungen beteiligt. Die österreichische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Rosa Mayreder (1858-1938) ging sogar einen Schritt weiter und meinte: «Das Bicycle hat zur Emanzipation der Frauen aus den höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammengenommen.»

Drei Frauen auf einem Tandem 1938. (Quelle: State Library of New South Wales)

Der lange Weg der Frau an die Lenkstange

Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das erste fahrradähnliche Fahrzeug entwickelt. Aber erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich das Fahrrad als Fortbewegungsmittel zunehmend etabliert. In der Anfangszeit jedoch war es ein Luxusgut und nur die gehobene Gesellschaft und Adelige konnten sich ein Fahrrad leisten.

Zu dieser Zeit war auch die Rollenverteilung der Geschlechter noch sehr klar definiert. Die Frau hatte sich um die häuslichen Angelegenheiten und die Kinder zu kümmern und war sehr eingeschränkt in ihren Freiheiten.

Die männliche Dominanz äusserte sich in verschiedenen Aspekten des Lebens. Auch das Fahrradfahren war eine von vielen Aktivitäten, die den Männern zugeordnet wurde. Während junge Burschen auf den neuen modernen Hochrädern bewundert wurden, ernteten Frauen auf dem Fahrrad Spott und wurden als «unweiblich» und «unsittlich» verhöhnt. Ärzte warnten sogar davor, dass das Fahrradfahren bei Frauen zur Unfruchtbarkeit führe. Viele Männer waren auch der kuriosen Ansicht, dass Frauen das Fahrrad zur Selbstbefriedigung zweckentfremden würden.

Die ersten aufkommenden Fahrräder waren aber auch von der Bauart stärker auf die männlichen Bedürfnisse angepasst. Durch die damals vorherrschende Kleiderordnung trugen Frauen meist bodenlange Röcke, um ihre Fussknöchel zu bedecken. Mit dieser Kleidung wurde bereits das Aufsteigen auf ein Fahrrad zu einem fast unmöglichen Akt, da die Fahrräder noch kein gebogenes Oberrohr – heute als Tiefeinstieg bekannt – hatten.

Der Fahrradboom und das neue Selbstbewusstsein der Frau

Mutige Pionierinnen liessen sich aber vom Spott und der anfänglichen Abneigung der Männerwelt nicht davon abbringen, diese neue Art der Mobilität zu benutzen. Für Frauen wurde das Fahrradfahren zu einem symbolischen Ausbruch aus der unbeweglichen Sesshaftigkeit und zu einem freieren Lebensstil. Immer mehr Frauen benutzten das Fahrrad. Die Erfindung der gebogenen Oberrohrstange 1885 machte das Fahrrad für Frauen noch zugänglicher und gab dieser Entwicklung einen zusätzlichen Schub. Für Frauen war es also einerseits ein symbolischer Protest das Fahrrad gegen den Willen der Männer zu benutzen, andererseits hatte es auch einen effektiven Nutzen für die Unabhängigkeit der Frau, da mit dem Fahrrad viele Dinge schneller erledigt werden konnten und so mehr Zeit für die individuellen Bedürfnisse übrigblieb.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebte das Fahrrad einen ersten richtigen Boom und um die Wende des 20. Jahrhunderts gab es im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung erste Serienfertigungen von Fahrrädern. Dadurch wurden Fahrräder zunehmend günstiger und auch für die Arbeiterschicht zugänglicher, auch wenn nach wie vor nur bereits gebrauchte Fahrräder für die breite Bevölkerung bezahlbar waren. Erst ab den 1950er-Jahren setzte sich das Fahrrad dann endgültig durch und ist in allen Bevölkerungsschichten angekommen.

Das Fahrrad als Mittel gegen das Korsett

Die vermehrte Verwendung des Fahrrads durch Frauen führte auch dazu, dass immer mehr Frauen sich gegen die vorherrschenden Kleidernormen wehrten. So wurden das enge Korsett und lange Röcke gegen weite Pumphosen und bequemere, fahrradfreundlichere Bekleidung eingetauscht.

Die französische Radrennfahrerin Mademoiselle Serpolette 1899. (Urheberrecht nicht bekannt.)

Wurde diese Entwicklung zuerst noch skandalisiert, gab es schon bald erste Hosen- und Modekollektionen, die extra für Frauen auf dem Fahrrad entworfen wurden. Schon bald wurden diese auch im Alltag getragen und nicht nur zum Fahrradfahren. Das Fahrrad ermöglichte den Frauen also gleich eine doppelte Bewegungsfreiheit und prägte das neue Selbstbewusstsein der Frau in der Gesellschaft auch in Form eines neuen Erscheinungsbildes.

Die Geschichte des Radrennsports bei Frauen

Auch beim Radrennsport mussten sich Frauen ihre Berechtigung erkämpfen. Zwar wurden Frauen an Radrennen zu Beginn geduldet, jedoch war der Respekt gegenüber deren Teilnahme sehr gering und es gab viele abschätzige Kommentare.

Erste bekannte Abbildung eines Frauenradrennens aus dem Jahre 1868 in Bordeaux. (Quelle: Wikipedia)

1868 fand in Bordeaux das erste bekannte reine Frauenradrennen statt. Es starteten 4 Teilnehmerinnen und Miss Julie gewann vor Miss Louise. Um die Wende des 20. Jahrhunderts wurden Radsportrennen von Frauen von verschiedenen Fahrradverbänden wieder verboten.

Die Einführung des offiziellen Frauenradsports erfolgte etappenweise. Erst seit den 1950er-Jahren gab es offizielle Radrennen für Frauen. Vorerst beschränkten sich diese aber auf die nationale Ebene. 1958 waren Frauen erstmals bei Strassen-Weltmeisterschaften zugelassen. 1984 wurde der Strassenradsport für Frauen auch als olympische Disziplin zugelassen. Danach folgte der Bahnradsport 1988 und zuletzt Mountainbike- und BMX-Rennen 2008.

Eine globale Emanzipation in verschiedenen Etappen

Kein anderes Verkehrsmittel hat die Emanzipation und die Unabhängigkeit der Frauen mehr gefördert als das Fahrrad. Und auch wenn hier in der westlichen Welt nach wie vor Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern herrschen und der Kampf der Frauen um Gleichberechtigung noch nicht zu Ende ist, hat sich in den letzten 150 Jahren doch vieles zu positiveren Gesellschaftsstrukturen gewandelt.

Nicht überall auf der Welt ist eine Frau auf dem Fahrrad heute bereits selbstverständlich (Quelle: Pixabay).

Doch diese Welle der Emanzipation, welche unter anderem durch das Fahrrad in der westlichen Welt vorangetrieben wurde, hat längst nicht alle Weltregionen erreicht. An vielen Orten der Welt haben Frauen noch einen langen und steinigen Weg zur Emanzipation vor sich. Das Fahrrad wurde jedoch immer mehr als Protestmittel der Emanzipation erkannt.

In Afghanistan bildete sich beispielsweise 2011 ein Sport-Team aus einer Gruppe von Frauen um das Tabu zu brechen, dass Frauen nicht Fahrrad fahren sollen. Auch in Ägypten und in der Türkei gab es Versammlungen von Frauen auf Fahrrädern, die gegen Diskriminierung und für eine Veränderung der Wahrnehmung der Frau demonstrierten.

Im streng konservativen Saudi-Arabien wurde es Frauen erst vor wenigen Jahren (2013) gesetzlich erlaubt, das Fahrrad zu brauchen. Und das auch nur mit strengen Auflagen und mit männlicher Begleitung. Im selben Jahr kam der Spielfilm „Das Mädchen Wadjda“ der saudi-arabischen Autorin und Regisseurin Haifaa al-Mansour in die Kinos. Der Film erzählt die Geschichte von einem jungen Mädchen, das davon träumt, ein Fahrrad zu besitzen. Es war der erste Spielfilm einer weiblichen Regisseurin aus Saudi-Arabien und der Film erhielt weltweit Bewunderung und Anerkennung.

Der Spielfilm vom Mädchen das vom Fahrrad träumt schlug weltweit hohe Wellen.

Die Emanzipations-Bemühungen zeigen langsam Wirkung. Die saudi-arabische Gesellschaft öffnet sich zunehmend und 2018 fand das erste offizielle Frauenradrennen Saudi-Arabiens statt. Im privaten Rahmen jedoch sind die alten Strukturen nach wie vor stark verankert und es ist noch ein sehr weiter Weg zu gehen.

Dass aber der erste Spielfilm einer Saudi-Arabischen Regisseurin als Thema den Traum eines Mädchens, ein Fahrrad zu besitzen hat, zeigt die Bedeutung und die Kraft, die das Fahrrad den Emanzipationsbemühungen verleiht.


Weiterführende Links und Informationsquellen:

Quelle Titelbild: Mitchell Library, State Library of New South Wales and Courtesy ACP Magazines Ltd.

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