500 Kilometer, 8‘500 Höhenmeter, fünf Sackgassen in Tessiner Tälern, in denen oben ein Kuchenbuffet wartet. Und dann noch ein schneller Ritt durchs Bleniotal. Das ist „Deadends & Dolci“ – Veloplus-Kunde Nicolai Morawitz war Ende April bei der ersten Ausgabe dabei.
Quelle Bilder: Ben Tobias Schürer / Jonas Traber
Reisebericht von Nicolai Morawitz
Ich habe für rund vier Jahre im Tessin gelebt und dort als Korrespondent für die Nachrichtenagentur Keystone SDA berichtet. In dieser Zeit sind bestimmt auch einige tausend Kilometer zusammengekommen, die ich auf dem Rennvelo zurückgelegt habe. Sackgassen waren dabei meine ultimativen Endgegner, geliebt und gefürchtet zugleich. Das Valle Morobbia (bei Bellinzona), Val Calanca (schon im Kanton Graubünden) und natürlich das Valle Verzasca haben meine Sinne verzaubert, mich leider aber auch immer wieder im starken Autoverkehr um den Verstand gebracht. Wenn es ging, vermied ich diese Anstiege und wählte einen der wenigen Rundkurse.
Mit diesen Erinnerungen und Erfahrungen im Gepäck, habe ich mich für «Deadends & Dolci» angemeldet. Ich wohne unterdessen mit der Familie in Bern und vom Ultracycling-Event versprach ich mir, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel von meinem alten Lebensmittelpunkt zu sehen. Zwei Anstiege – den letzten Abschnitt Malcantone und das Valle di Muggio – war ich zudem noch gar nie gefahren. Ausserdem Neuland: Noch nie zuvor habe ich versucht, in möglichst kurzer Zeit so viele Kilometer und so viele Höhenmeter zurückzulegen.
Die Ultracycling-Szene war mir bislang unbekannt – zwar fuhr ich in Eigenregie schon einmal an einem Tag von Bern ans Stilfserjoch, aber in einem Rennsetting ans Limit zu gehen, ist doch etwas anderes. Was für mich vorab klar war: Trotz laufender Uhr und «Live-Tracking» wollte ich ein paar Stunden in einem richtigen Bett schlafen. (Junge) Mütter und Väter werden nur zu gut wissen: Wer einen «Freifahrschein» für ein Wochenende in Eigenregie bekommt, darf nicht komplett zerstört wieder zurückkommen. Das ist eine unausgesprochene Übereinkunft.
Start 6 Uhr in Bellinzona an der Burg Castelgrande. Nach einem neutralisieren Start schwirren die Velofahrerinnen in alle Himmelsrichtungen aus, denn der jeweilige Parcours muss selbst gewählt werden. Es gilt, die jeweiligen Checkpoints abzufahren, aber die Reihenfolge ist jedem selbst überlassen. “Deadends & Dolci” hat einen bunten Haufen Velofahrer:innen im Südkanton versammelt: Ausgewiesene Ultracycling-Enthusiast:innen, verträumte Bikepacker:innen, Menschen auf Lastenrädern und sogar ein Teilnehmer, der Schneeschuhe auf dem Rücken trägt, damit er mit geschultertem Velo verschneite Berge überqueren kann. Gestartet werden kann allein oder als Duo – der Frauenanteil bei der ersten Ticino-Deadends-Edition ist erfreulich hoch.
So schön die Atmosphäre der ersten Rennminuten ist, wer die vibrierende Atmosphäre eines Velopulks an Granfondos liebt, kommt hier nicht auf seine Kosten. Nach nur zehn Minuten radele ich alleine über eine Kantonsstrasse in der Magadinoebene. Die anderen Teilnehmer:innen sind entweder schneller, langsamer oder haben eine andere Richtung eingeschlagen als ich. Das gesamte Rennen is “self-supported”, das heisst externe Hilfe ist nicht erlaubt. Alle Ausrüstung, die gebraucht wird, muss die Person selbst auf dem Velo mittragen.
So ging es für mich durch das Rennen:
Vergeletto: Einmal ans Ende der Welt und zurück
Ende April kann es im Tessin noch recht frisch werden. Das war am Wochenende von “Deadends & Dolci” nicht anders. Vom Onsernonetal biege ich ab ins Val Vergeletto, klettere Haarnadelkurven empor und staune über das frische Grün des Tessiner Frühlings. Auf den letzten Kilometern in Richtung Talschluss grüsst noch der Winter von fern. Ich versuche meinen Rhythmus zu halten, um nicht auszukühlen. Das Stück Apfelmohnkuchen am Checkpoint kann ich gar nicht in Ruhe essen, so kalt ist mir. Was auf keinen Fall vergessen gehen darf: Ich hole mir einen Stempel, der zeigt, dass ich da gewesen bin. Am Ende der Reise wird «D-O-L-C-I» auf dem bunten Stück Karton zu lesen sein, das ich mit mir trage.
Malcantone: Landesgrenze – welche Landesgrenze?
In meinen Tessiner Zeiten hätte ich nach einem solchen Aufstieg ins Vergeletto sicher wieder den Heimweg angetreten, bei «Deadends & Dolci» war es erst der Auftakt. Nachdem der Kuchen im Stoffwechsel angekommen ist, und die Temperaturen steigen, komme ich gut den Ceneri-Pass hoch. Ich wähle nicht etwa den klassischen Weg entlang der Hauptstrasse, sondern jenen über einen alten Säumerpfad. Grober Kopfsteinpflaster ist in dem Moment genau das Richtige, um die Beine auf das einzustimmen, was die nächsten 24 Stunden noch folgt. Stur der Kantonsstrasse entlang erreiche ich den Aufstieg ins Malcantone. Die Sonne zeigt sich zum ersten Mal richtig, der Kirchturm grüsst, Rustico steht an Rustico: es fühlt sich so richtig nach Tessin an. Die Serpentinen hoch nach Arosio sind mindestens unter Tessiner Velofahrer:innen legendär. Während es hier zwar steil, doch regelmässig zugeht, verlangt der Schlussanstieg zum Passo di Monte Faëta einiges ab. Auf einem Schotterstück fliegt mir ein grosser Stein so ungünstig an den Umwerfer, dass er verbiegt. Zum Glück haben Besucher oben einen Werkzeugkasten und ich kann es wieder richten und weiterfahren. Der Checkpoint liegt versteckt auf einer Lichtung und nur unweit von der Landesgrenze zu Italien. Einige Teilnehmer:innen haben deshalb den Weg vom Lago Maggiore (also der italienischen Seite) hoch zum Checkpoint gewagt. Neben einem Stempel gibt es noch ein gefülltes Schoggi-Croissant.
Valle di Muggio: Südlicher geht‘s nicht
Bald sind 150 Kilometer geschafft und das Rennen beginnt mir richtig Spass zu machen. Selbst der dichte Verkehr Luganos und der Siedlungsbrei der Region kann mir die gute Laune nicht verderben. Ich lege mich auf meinen Aufliegerlenker und spule Kilometer ab – eigentlich eine ungewohnte Position für mich. Die Fahrt ans Ende des Valle Muggio ist in der Gesamtbetrachtung mehr Kür als Pflicht: Ein gleichmässiger Anstieg und das Ziel fest vor Augen. Oben angekommen wartet eine herzerwärmende Deadends-Crew auf die Fahrer:innen. Mir bieten sie an, einen Kaffee zu holen, wir kommen ins Gespräch: Warum ich diese seltsamen Aero-Überschuhe bei einem Ultracycling-Event trage? Sie wirkten auf die eine Hälfte des Teilnehmerfelds furchteinflössend und die andere Hälfte komplett lächerlich, so meine nicht ganz ernst gemeinte Überlegung. Psychologische Kriegsführung in Zeiten von “Friede, Freude, Eierkuchen”.
Val Calanca: Leiden im letzten Licht
Mit meiner eigenen Psyche, und nicht jener meiner Mitfahrer:innen, habe ich auf dem folgenden Abschnitt zu kämpfen. Denn ich weiss, dass ich nochmals durch den gesamten Ballungsraum von Lugano fahren muss, und zwar im Feierabendverkehr. Dieser stellt sich dann aber als derart zäh heraus, dass ich an den Autokolonnen einfach vorbeifahren kann, weil alles blockiert ist. Die schnelle Abfahrt vom Ceneri-Pass lässt mich euphorisch werden: Schon über 220 Kilometer geschafft, Bellinzonas Burgen glänzen in der Abendsonne und den nächsten Anstieg ins Val Calanca kenne ich gut.
Dort rächt sich allerdings ein Fehler in der Routenplanung, der mir vorab hätte auffallen sollen. Getränke und Verpflegung habe ich für einen fünf Kilometer langen Schlussanstieg eingeplant. Dieser entpuppt sich allerdings als Wanderweg mit groben Felsen. Ich muss also einen grossen Bogen fahren und im letzten Licht des Tages weitere 13 Kilometer und 500 Höhenmeter zurücklegen. Besonders schwer für die Beine – und vorallem den Kopf: Nach einer knüppelharten letzten Kletterpartie geht es in einer steilen kurzen Abfahrt zur Hütte, in dem der Checkpoint untergebracht ist.
Da wie immer bei «Deadends» eine Sackgasse angesteuert wird, bedeutet das auch, dass man sich nur kurz freuen kann, einen neuen Stempel ins Fahrtenbuch zu bekommen. Kurz danach transformiert sich die rassige Abfahrt in eine Wand, die im Schwarz der Nacht verschwindet, und erklommen werden muss. Als es dann wirklich wieder bergab geht, springen Rehe durch den Lichtkegel meines Scheinwerfers. Mit wirklich letzter Kraft erreiche ich nach knapp 300 Kilometern wieder das Tal und suche eine Unterkunft. Ich entscheide mich für ein Bed & Breakfast mit richtigem Bett – während die Dusche noch gut tut, kann ich mich über das komfortable Bett nur wenig freuen. Ich bin so voller Eindrücke und wohl auch Adrenalin, dass ich nur wenig schlafen kann. Um drei Uhr morgens setze ich die Fahrt fort. Nach sieben Stunden Pause habe ich mich von einer richtig guten Schlusszeit verabschiedet, aber ich kann wieder sicher Abfahrten hinunterfahren.
Somprei: Die letzten Zweihundert und der Wind
Die letzten Zweihundert und der Wind: In der Nacht durchfahre ich das Bleniotal, in dem zwar kein Checkpoint untergebracht ist, das aber von allen Teilnehmer:innen obligatorisch durchfahren werden muss. Als es langsam hell wird, fallen Regentropfen und ich muss mich in den steilen Abfahrten noch mehr konzentrieren. Auch in der Leventina – in Richtung Gotthard also – regnet es weiter leicht und ich habe Gegenwind. Als ich in Faido am Fuss des Anstiegs ankomme, muss ich die wirklich letzten Kraftreserven mobilisieren. Fast 400 Kilometer bin ich bis dahin gefahren und es liegen die letzten sieben hundert Höhenmeter vor mir. Insgesamt werde ich nach dem Rennen 8’800 Höhenmeter in den Beinen haben.
Die letzten zwei Kilometer hoch nach Somprei sind die anspruchvollsten der gesamten Tour: Auf der Gravelroute liegt noch Schneematsch, was das Fortkommen umso schwieriger macht. Dieses Deadend hat seinen Namen wirklich verdient: Unten ein steiler Abhang, oben der Himmel, mehr nicht. Langsam dämmert mir, warum viele Teilnehmer:innen diesen Checkpoint zu Beginn abgefahren sind, als sie noch lockere Beine hatten. Ich kassiere meinen letzten Stempel ein, doch die Energievorräte sind komplett leer.
Das letzte “Dolci” aber gibt es in einem Grotto weiter unten – also zurück durch die braunen Schneereste und durchhalten. Eine Suppenbrühe weckt wenig später wieder Lebenskräfte – nach einer Serpentinenabfahrt bin ich wieder zurück in der Leventina. Es liegen zwar nur noch 40 Kilometer bis zum Ziel in Bellinzona vor mir, aber der Wind bläst derart erbarmungslos von vorn, dass sie mir wie 100 vorkommen. Es wird die wahrscheinlich einsamste Stunde auf dem Velo, seit ich diesen Sport für mich entdeckt habe. Als ich dann in der Tessiner Kantonshauptstadt einfahre, bin ich zwar erleichtert, aber es fehlt auch ein wenig Kraft für wirkliche Freude. Es war spannend die Grenzen auszutesten und das Tessin in seiner ganzen Wucht zu spüren.
Der Event wurde durch die vielen Freiwilligen an den Checkpoints zu einem unvergesslichen Erlebnis – doch wirklich Feuer gefangen für die Ultracycling-Distanzen habe ich nicht. Vielleicht muss sich die innere Sanduhr mit Willenskraft auch erst langsam wieder füllen, bis ich eine ähnliche Herausforderung wieder meistern kann.
Setup: Scott Addict Gravel, Apidura Satteltasche, Restrap Oberrohrtasche
Zusatzinfo: Sackgassen und Kuchen gab es 2021 und 2022 zum ersten Mal bei “Deadends & Cake” in der Ostschweiz. Zwischen dem 23. Und 25. Juni 2023 fand die dritte Edition statt. Der Berner Filmemacher Jan Mühlethaler hat eine Dokumentation zu “Deadends & Cake” produziert, die hier zu sehen ist:
Wir bedanken uns ganz herzlich bei Nicolai Morawitz für diese spannenden Einblicke in dieses Ultracycling-Event.
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