Heimliche Heldinnen auf zwei Rädern

Acht kurze und wunderbar verrückte Geschichten von Frauen, die auf dem Fahrrad Geschichte geschrieben haben — und die trotzdem kaum jemand kennt.


Zum Autor: Felix Schindler war Journalist beim Tages-Anzeiger und der NZZ. Heute schreibt er als freier Autor Texte über Mobilität und unterstützt Organisationen, die den Verkehr von morgen gestalten.

Bild: ©Gaëtan Bally


Heimliche Heldinnen auf zwei Rädern

Gastbeitrag von Felix Schindler

Acht kurze und wunderbar verrückte Geschichten von Frauen, die auf dem Fahrrad Geschichte geschrieben haben — und die trotzdem kaum jemand kennt.

Gewann fast jedes Rennen, an dem sie startete: Tillie Anderson. (Bild: Wikimedia Commons)

Karl von Drais erfand das (Ur)-Fahrrad, Eddy Merckx war der beste Radfahrer aller Zeiten und Fabian Cancellara machte während eines Jahrzehnts die ganze Schweiz stolz. Die Geschichte des Fahrrads, so scheint es, ist eine Geschichte von Männern. Tatsächlich gibt es tausende grossartige Frauen, die auf Fahrrädern herausragende Leistungen erbracht haben. Sie haben Geschichte geschrieben — ihre Namen kennen trotzdem nur die wenigsten.

Wir erzählen hier acht kurze, verrückte und wunderbare Episoden von beeindruckenden Frauen, die pedalierend den Lauf der Zeit verändert haben.


1. Amelie Rother (Geburtsjahr unbekannt)

Amelie Rother gehörte zu den ersten Frauen, die auf dem Fahrrad durch Berlin fuhren und sich «dem entsetzten Volke auf dem Rade zeigten», wie Rother in einem Essay schrieb. Das war 1890. Frauen ihres Standes war damals eigentlich nur eine einzige Rolle zugedacht: die in ein Korsett gezwängte Gattin eines Mannes zu sein. Frauen auf Fahrrädern empfand man(n) damals schlicht als obszön.

Im September 1893 startete Rother am ersten Damenrennen im Berliner Velodrom. Das war durchaus als Akt der Emanzipation zu verstehen. «Wir alten Berliner Rennfahrerinnen […] wollten weder unsere Reize den Zuschauern präsentieren, für Mütter heranwachsender Töchter schon eine etwas schnurrige Zumutung, noch uns an den (NB. sehr bescheidenen) Preisen bereichern, sondern wir wollten dem Publikum zeigen, dass wir Herrinnen unserer Maschinen waren und den Damen zurufen: Hier, seht her und macht es uns nach! Beides ist uns gelungen.»

Rothers Zitate stammen aus dem Text «Das Damenfahren» (1897). Den ganzen Text gibt es hier: «Der Radfahrsport in Bild und Wort» (ab Seite 111).

Weiterführende Quellen


2. Annie Londonderry (1870–1947)

Annie Londonderry im Jahr 1896 nach ihrer Weltumrundung. (Bild: Wikimedia Commons)

Annie Londonderry war Anfang zwanzig, von zierlicher Statur und Mutter von drei Kindern, als sie Geschichte schrieb. Am 27. Juni 1894 setzte sie sich in Boston auf ein Fahrrad, um damit die Welt zu umrunden. Nie zuvor hatte eine Frau etwas Vergleichbares gemacht.

Die junge Frau hiess eigentlich Anna Cohen Kopchovsky. Doch sie musste sich etwas einfallen lassen, um ihre Reise zu finanzieren. Das Mineralwasser-Unternehmen Londonderry Lithia bezahlte ihr 100 Dollar dafür, dass sie ihren Firmennamen annahm und ihn dadurch bekannter machte. Londonderry trug anfangs einen langen Rock und schaffte nur 8 bis 10 Meilen am Tag. Später tauschte sie den Rock gegen Knickerbocker ein und ihr 41 Pfund schweres Columbia gegen ein viel leichteres Sterling — mit Starrnabe und ohne Bremse.

Im Laufe ihrer Reise erzählte sie Reportern rund um den Globus ihre faszinierenden Geschichten, von denen offenbar die meisten nicht stimmten. Aber sie waren gut erfunden und deckten ihre Kosten. Als gesichert gilt aber: Sie durchquerte Le Havre, Marseille, Jerusalem, Jemen, Colombo, Singapur, Saigon, Hong Kong und Shanghai. Im März 1895 kam sie in San Francisco an und fuhr in sechs Monaten mit dem Fahrrad quer durch die USA zurück nach Chicago. Auch wenn sie einen substanziellen Teil der Reise auf dem Schiff zurückgelegt hatte, dürfte sie innerhalb von 15 Monaten mindestens 12’000 Kilometer gefahren haben. Mit Starrnahme und ohne Bremse.

Weiterführende Quellen


3. Tillie Anderson — «the Terrible Swede» (1875–1965)

130 Starts, 123 Siege: Die Wettkampfbilanz von Tillie Anderson (Bild: Wikimedia Commons)

Die gebürtige Schwedin Tillie Anderson gehörte zu den ersten Ikonen des Frauenradsports. Sie war erst 16 Jahre alt, als sie 1891 in die USA emigrierte und zu ihrer Schwester nach Chicago zog. Sie heiratete einen Rennfahrer,, der irgendwann erkannte, dass seine Frau viel mehr Potential hatte als er selbst. Er beendete seine eigene Rennfahrerkarriere und zusammen bauten sie ihre Zukunft auf Tillies Rennfahrerinnen-Karriere auf.

Obwohl Anderson viel öffentlichen Zuspruch erhielt und vom Radsport gut leben konnte: Vielen Zeitgenossen missfiel, wie sie das damalige Frauenbild in Frage stellte. Eine Zeitung veröffentlichte ein Bild ihrer gut trainierten Beine, um die «schrecklichen Auswirkungen» des Radfahrens auf die weibliche Form zu zeigen. Ihren Spitznamen «die schreckliche Schwedin» dürfte allerdings weniger mit dem Aussehen ihrer Beine zu tun gehabt haben als mit ihrer aussergewöhnlichen Wettkampfbilanz. Anderson fuhr 130 Rennen, von denen sie 123 als Siegerin beendete.

1902 endete ihre Karriere. Damals wurden Radrennen für Frauen in den USA verboten, im gleichen Jahr starb ihr Mann unter tragischen Umständen.

Weiterführende Quellen

  • De cyklande kvinnorna (unbedingt lesenswerter Artikel [auf schwedisch] über «Die Radsportfrauen» mit vielen Informationen über Tillie Anderson, Annie Londonderry, Kitty Knox und anderen, 2016).
  • tillieanderson.com (Website mit Informationen über Tillie Anderson).

4. Alfonsina Strada — «il diavolo in gonnella» (1891–1959)

Gewann an ihrem ersten Rennen ein lebendiges Schwein: Alfonsina Strada. (Bild: Wikimedia Commons)

Die Norditalienerin Alfonsina Strada ist die erste Frau, die den Giro d’Italia gefahren ist — und die einzige, die je eine dreiwöchige Rundfahrt gegen Männer bestritten hat. Strada war die Tochter eines Tagelöhners, mit 10 Jahren tauschte sie ein paar Hühner gegen ein Fahrrad ein, mit 13 bestritt sie ihr erstes Rennen. Sie siegte und gewann ein lebendiges Schwein.

Später deklassierte sie so viele Konkurrentinnen, dass sie «Teufel im Rock» genannt wurde. 1924, mit 33 Jahren, schrieb sie sich als «Strada, Alfonsin» in die Startliste des Giro ein — und erhielt eine Startnummer. Die Etappen waren zwischen 250 und 415 Kilometer lang und der Regen verwandelte die damals noch nicht asphaltierten Strassen in unfahrbare Schlammpisten. Bei einem Sturz auf der achten Etappe brach Stradas Lenker. Sie reparierte ihn mit einem Besenstil und überfuhr nach 3613 Kilometern die Ziellinie in Mailand. Weil sie das Zeitlimit auf zwei Etappen verfehlte, wurde sie nicht klassiert. Trotzdem war sie insgesamt 20 Stunden schneller als der letzte Mann auf der Rangliste.

Strada durfte nie mehr an einem Giro starten, doch ihre Leidenschaft für das Radfahren blieb. Noch mit 47 Jahren stellte sie einen Stundenweltrekord auf — der 17 Jahre lang ungeschlagen blieb.

Weiterführende Quellen


5. Eileen Gray (1920–2015)

Obwohl ihre Verdienste so bedeutend sein dürften wie jene der irischen Architektin Eileen Gray: Die britische Radsport-Pionierin mit gleichem Namen ist nur wenigen bekannt. Als 26-Jährige nahm Gray als Teil des allerersten britischen internationalen Frauen-Radsportteams an einem Bahnradrennen teil. Schon wenig später trat sie vom Profisport zurück — und kämpfte den Rest ihres Lebens dafür, dass weibliche Radsportlerinnen dieselbe Anerkennung erhielten wie ihre männlichen Kollegen.

Gray gründete den ersten britischen Radsport-Verband für Frauen. Sie rang so lange mit dem Internationalen Radsportverband UCI, bis dieser die Rekorde von Frauen endlich anerkannte. Ihr ist es zu verdanken, dass seit 1984 an den olympischen Spielen auch Strassenrennen für Frauen ausgetragen werden. Gray starb 2015 im Alter von 95 Jahren, doch ihre Ziele sind leider noch lange nicht erreicht: Rennfahrerinnen verdienen bis heute wenig und ihre Rennen werden kaum im Fernsehen gezeigt.

Weiterführende Quellen


6. Dervla Murphy (1931–2022)

Erkundete die Welt und einen Bürgerkrieg in ihrem eigenen Land: Dervla Murphy (Bild: Wikimedia Commons)

Die Irin Dervla Murphy fuhr 1963 mit dem Fahrrad alleine von Irland nach Indien, «bewaffnet mit nichts weiter als ihrem Selbstbewusstsein und einer Pistole». Sie durchquerte Europa im Winter, wurde in Bulgarien von einem Wolf angegriffen, schlug im Iran Diebe in die Flucht und entkam dank «nicht druckreifen Taktiken» einer versuchten Vergewaltigung, wie sie später in einem Buch schrieb.

In Indien angekommen, liess sie sich nicht als Heldin feiern, sondern arbeitete in einem Lager für Flüchtlinge aus Tibet. Was sie 1963 begann, wurde zu Murphys Lebensaufgabe: Sie bereiste mindestens 30 Länder und schrieb 25 Bücher. Während des Höhepunkts des Nordirlandkonflikts fuhr sie mit dem Fahrrad durch ihr eigenes Land, sprach mit Menschen auf beiden Seiten des Bürgerkriegs und schrieb das Buch «A Place Apart: Northern Ireland in the 1970s». Murphy starb letztes Jahr in Irland.

Weiterführende Quellen


7. Betty Birrell — «North Shore Betty» (geb. 1949)

Das Leben ist ein Spielplatz: Betty Birrell (Bild: Screenshot Patagonia)

In den 1980er-Jahren gehörte Betty Birrell zu den ersten Frauen, die richtig grosse Wellen surfen konnten. Mit 45 kaufte sie ihr erstes Mountainbike und beherrschte bald die anspruchsvollen North-Shore-Trails in den Wäldern von British Columbia. «Mein Ex-Mann sagte einmal: ‹Du denkst, das Leben ist ein einziger großer Spielplatz.›» Obwohl er das nicht als Kompliment gemeint hatte, antwortete sie: «Ja, genau!» So erzählt sie es im hier verlinkten (Werbe-)Film einer Outdoor-Marke.

«North Shore Betty» heizt noch heute, mit 73 Jahren, über die berüchtigten «double black trails», an die sich viele von uns auch während ihrer besten Jahre nicht heranwagen würden. Immer dabei ist ihr Hund, oft auch ihr Sohn. Auch den 41 Jahre jüngeren Downhill-Pro Remy Métailler hat sie schon auf ihre Lieblingstrails mitgenommen.

Wenn das Betty Birrell nicht sowieso zu einer ganz ausserordentlichen Radfahrerin macht, dann das: Wenn sie übers Biken spricht, strahlt sie übers ganze Gesicht. Sie gibt uns älter werdenden Velofahrer:innen die Zuversicht, dass wir das Glück auf zwei Rädern noch lange festhalten können.

Weiterführende Quellen


8. Fiona Kolbinger (geb. 1995)

Setzte sich gegen 224 Männer mit mehr als 10 Stunden Vorsprung am Transcontinental Race durch: die stolze Siegerin Fiona Kolbinger (Bild: © James Robertson, The Transcontinental Race).

Ja, sie hat eines der härtesten Radrennen der Welt gewonnen. Ja, sie war schneller als alle ihre männlichen Konkurrenten. Aber um zu verstehen, was Fiona Kolbinger geleistet hat, muss man ein paar Dinge über dieses Rennen wissen, das sie gewann.

Das Transcontintental Race ist ein Self-Supported-Rennen quer durch Europa. Self Supported heisst: selbst navigieren, Essen und Trinken besorgen, Defekte reparieren, Übernachtungen organisieren. Und selbst alles transportieren, was man für die Durchquerung eines Kontinentes so braucht. Die Strecke ändert sich jedes Jahr und ist zwischen 3500 und 4500 Kilometer lang. Sie führt jeweils an vier Checkpoints vorbei, die stets ganz oben auf hohen Pässen liegen. Und die Stoppuhr hält niemals an. Im Grunde ist das TCR ein Einzelzeitfahren — nur dass es länger ist als die gesamte Strecke einer Tour de France. Wer gewinnen will, muss pro Tag ungefähr 450 Kilometer zurücklegen.

2019 starteten 224 Männer und 40 Frauen in Bulgarien am Schwarzen Meer, das Ziel lag in Brest an der französischen Atlantikküste. Nach zehn Tagen überquerte die damals 24-jährige Kolbinger die Ziellinie als erste, mit einem Vorsprung von über 10 Stunden auf den schnellsten Mann. Geschlafen hat sie irgendwo neben der Strecke, ungefähr drei Stunden pro Nacht. Ein Preisgeld gabs dafür nicht. Nur einen Stempel auf einer Brevet-Karte.

2022 startete sie erneut und wurde achte. Seit dem letzten TCR schloss sie ihr Medizinstudium ab und arbeitet nun als Ärztin an der Universitätsklinik Carl Gustav Carus in Dresden. Deshalb sei ihr Training etwas zu kurz gekommen, sagte Kolbinger in einem Interview. Doch es waren nicht die Beine, die ihr zu schaffen machten: In der tschechischen Republik stahlen ihr Diebe ihre Brieftasche und den GPS-Tracker, während sie schlief. Die letzten 600 Kilometer fuhr sie mit nur einem Gang — für ihre Schaltung war das alles ein bisschen zu viel.

Kolbinger zeigt, dass die vermeintliche körperliche Überlegenheit von Männern an Bedeutung verliert, je länger die Distanzen werden — und je komplexer die Herausforderungen. Gewissermassen führt Kolbinger fort, was Amelie Rother vor 120 Jahren begann.

Weiterführende Quellen


9. bis 60.

Eigentlich müsste diese Liste hier weitergehen: 9. Denise Mueller-Korenek, die mit einem Fahrrad schneller gefahren ist als jeder andere Mensch zuvor, nämlich 296 km/h. 10. Amanda Coker, die in einem Jahr weiter gefahren ist als jeder andere auf einem Fahrrad (139’000 km). 11. Die Schweizerin Nicole Reist, die kürzlich das Race Across America gewonnen hat. Nur zwei Männer waren schneller, und diese überholten sie erst auf den letzten 300 Kilometern, die Reist mit gebrochener Rippe zurücklegen musste.

Hoffentlich werden sie und alle anderen Rennfahrerinnen, Abenteurerinnen und Pionierinnen so viel Anerkennung erhalten wie ihre männlichen Kollegen. Dazu gehört, dass wir sie sehen, uns mit ihnen auseinandersetzen und uns von ihren Leistungen begeistern lassen. Deshalb hier wenigstens die Namen von 49 weiteren Frauen (in alphabetischer Reihenfolge). Sie alle zeigen, dass der Radsport nicht eine Geschichte von Männern oder Frauen ist, sondern eine von Mut, Leidenschaft — und nicht selten auch von Sturheit.

Glücklicherweise gibt es in den Tiefen des Internets über jede von ihnen spannende Fundstücke, die es sich zu lesen lohnt. Die Wikipedia-Einträge sind, sofern vorhanden, hier verlinkt. Viele haben Twitter- oder Instagram-Accounts (ebenfalls verlinkt), über die wir mit ihnen in Verbindung treten und uns von ihnen inspirieren lassen können, wenn sie ihren nächsten Traum in die Tat umsetzen.

Vollständig ist auch diese Liste nicht, kann sie niemals werden. Lasst mich trotzdem wissen, wer hier keinesfalls fehlen darf.

Felix Schindler, 27. Januar 2023


Veloplus bedankt sich ganz herzlich, dass wir diesen sehr lesenswerten und spannenden Beitrag mit unseren Leser:innen teilen durften. Weitere spannende Beiträge von Felix Schindler findet ihr hier:

https://www.felixschindler.ch/


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2 Kommentare

P
10. Februar 2023

Und Jacquie Phelan ?

Urs Fehlmann
10. Februar 2023

Velofahren und gute Laune! Frauen und Männer!

Grüsse Urs Fehlmann, Rentner und Elektromobil!

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