„Tutto bene“ in den Abruzzen

Veloplus-Mitarbeiter Richard Lüscher hat mit seiner Frau Gisela 7 Tage beim Biken in den Abruzzen verbracht. Die beiden haben über ihre abenteuerlichen Ferien einen kleinen Reisebericht geschrieben.

Reisebericht von Richard und Gisela Lüscher

An das für uns unverständliche Stakkato der Lautsprecherdurchsagen im Bahnhof Milano Centrale haben wir uns an diesem Morgen schnell gewöhnt – zu schnell, wie es sich später herausstellen wird. Denn, „tutto bene“, unser Zug erscheint immer noch auf der elektronischen Anzeigetafel, allerdings ohne Angabe der Gleisnummer. Und vielleicht etwas weniger „bene“, die planmässige Abfahrtszeit ist bereits verstrichen, aber eine kleine Verspätung kann ja mal vorkommen.

Und dann echt ganz und gar nicht mehr „bene“, als wir vom Info-Mann in Leuchtweste erfahren, unser Zug sei pünktlich abgefahren. Schon wird es wieder eher „tutto bene“: Die Signora von Tren Italia nimmt es gelassen, als sie unser Ticket auf den Zug drei Stunden später umbucht. Die Anzeigetafeln hätten heute leider nicht richtig funktioniert…

Der Blick aus dem Fenster lässt unsere Augen über die markante, 2912 Meter hohe Kalkspitze des Corno Grande schweifen.

Am nächsten Tag reduziert sich dieses Intermezzo definitiv zur Fussnote einer Reise in den Süden. Wir geniessen das Frühstück, vollendet von der hausgemachten und zuckersüssen Crostata, bei unserem Gastgeber Sergio und seiner Gemahlin Tea. Der Blick aus dem Fenster lässt unsere Augen über die markante, 2912 Meter hohe Kalkspitze des Corno Grande schweifen. Wir sind angekommen in den Abruzzen und vor uns liegen sieben Tage Mountainbiken durch diesen höchsten Abschnitt des Appenin.

Für Sergio ist der Ort Isola del Sasso Grande und somit sein kleines Hotel der ideale Ausgangspunkt für die Erkundung des gleichnamigen Nationalparks per Mountainbike. Würden wir für mehrere Tage bei ihm logieren, so hätten wir in seinen Augen die beste Wahl getroffen. Für ihn scheint es unvernünftig, wenn gar unmöglich, per Velo und mit dem Touren-Rucksack den Gebirgskamm zu überqueren. Wir bleiben gelassen, bewegen wir uns doch auf den Spuren von Achim Zahn, einem dieser ungekrönten Könige der alpinen Mehrtagestouren per Mountainbike.

Den steilen Anstieg zur Scharte bewältigen wir unsere Zweiräder schiebend und tragend.

Stunden später erinnern wir uns an die Vorbehalte, welche Sergio betreffend unserer Routenwahl hegte. Vor uns das grosse Durcheinander von ineinander verkeilten Baumstämmen, manche noch an einem Stück mit den in die Höhe ragenden Wurzelstöcken. Wir vermuten als Ursache für diese Schikane einen Lawinenniedergang während einem der letzten Winter. Ein Durchkommen gemäss dem auf dem GPS vorgezeichneten, Weg ist hier unmöglich. Diesen Abschnitt bergwärts oder talwärts umgehen? Das ist nun die Frage. Den Weg zurückzugehen, erscheint uns auch nicht so prickelnd, hatten wir doch unsere Velos gerade eben einen schon gut verwilderten Abhang hinunter bugsiert.

Wir entscheiden uns für die Variante talwärts. Dort scheint uns das Gewirr von mit Brennesseln durchwachsenen Baumleichen und weiterem widerspenstigen Grünzeug etwas durchlässiger zu sein. Gisela widmet sich nacheinander dem Transport der beiden Rucksäcke, ich buckle die Mountainbikes. Etwas mehr als eine Stunde verbraten wir für diese lumpigen 1000 Meter Wegstück, wie es uns das GPS rückblickend protokolliert.

Und dieses Mal geben wir dem Skeptiker Sergio in der Retrospektive natürlich Recht. Hatte er uns doch genau von dieser Traverse durch den weiten Talkessel unterhalb des Corno Grande abgeraten. Uns bleibt die Erkenntnis, eine echte Abenteuerreise „gebucht“ zu haben. Nach vollendetem Tageswerk und dem Genuss je eines Primo und Secondo Piatto und dem unverzichtbaren Dolci, bleibt für uns unter dem Strich aber ein überzeugtes „tutto bene“ stehen.

Obwohl sich über die kommenden Tage die uns wohlbekannte Routine des Reisens einstellt, freuen wir uns von Neuem über jedes noch unbekannte Wegstück.

Weitere 366 Kilometer, gespickt mit etwas mehr als 9900 Höhenmetern, lassen uns in diese wunderschöne Gebirgslandschaft eintauchen. Am zweiten Tag überqueren wir den Hauptkamm via dem Passo della Portella auf über 2200 Meter über Meer. Den steilen Anstieg zur Scharte bewältigen wir unsere Zweiräder schiebend und tragend. Beobachtet werden wir von Gämsen, und wir beobachten sie im Gegenzug bei der Futtersuche an den Hängen des schroffen Talkessels.

Dann ist es vollbracht, und wir geniessen den leicht abfallenden Singletrail hinüber zum Campo Imperatore. Der Name ist Programm: Vor uns breiten sich riesige Weideflächen aus, umschlossen von hübschen Hügelchen. In unseren Köpfen werden Erinnerungen an die Mongolei wach. Aus den weissen Punkten in der Ferne werden beim Näherkommen Herden von Rindern und Schafen. Wir halten genügend Abstand, sodass die Herdenschutzhunde in uns keine Gefahr sehen. Einzig die Asphaltstrasse welche die Talschaft für Autos und Motorräder erschliesst, passt nicht so richtig ins Bild.

Die Abruzzen haben sich nun definitiv als Sehnsuchtsort in unsere Hirnwindungen und in unsere Herzen eingenistet.

Unser Weg führt über eine Kuppe aus dem weiten Trog hinaus in ein verträumtes Nebental. So erreichen wir das Tagesziel Castel del Monte über holprige Schotterwege. Obwohl sich über die kommenden Tage die uns wohlbekannte Routine des Reisens einstellt, freuen wir uns von Neuem über jedes noch unbekannte Wegstück. Die Sinne werden mit einer geballten Ladung purer Natur verwöhnt. Doch hat auch der Mensch über die Jahrhunderte diesen Landstrich geprägt. Er hat gerodet und Steine aus dem Weg geräumt, um Weideland zu gewinnen. In mächtigen, abflusslosen Senken wird gar Ackerbau betrieben.

Leider wandert die Bevölkerung mangels Perspektiven ab, und die zwei zerstörerischen Erdbeben in den Jahren 2009 und 2016 haben den Bewohnern und den Gemeinden ein schweres Erbe hinterlassen. Etwas weiter im Norden streift unsere Route den Monte Sibillini Nationalpark.

Die Abruzzen haben sich nun definitiv als Sehnsuchtsort in unsere Hirnwindungen und in unsere Herzen eingenistet. Leider geht uns die Reisezeit für dieses Mal aus. Doch lamentieren bringt uns jetzt nicht weiter. Denn das Motto dieser Reise bleibt: „tutto bene!“


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