Bogotá, die Velostadt Lateinamerikas

Veloplus-Kundin Laurence Beuchat hat eine fünfmonatige Veloreise durch Brasilien und Kolumbien unternommen. Dabei war sie an der Ciclovía in Bogotá. Die Ciclovía ist eine Massenradsportveranstaltung, die den motorisierten Verkehr an Sonn- und Feiertagen von bestimmten Strassen der Stadt verbannt. Für Veloplus hat Laurence einen Bericht über dieses ganz besondere Erlebnis geschrieben.

Reisestory von Laurence Beuchat, Veloplus-Kundin

Bogotá, Sonntagmorgen, Februar 2022. An diesem Morgen hat ein Ansturm von Velofahrern mehrere städtische Achsen in Beschlag genommen. Wie viele Hauptstrassen wurde auch die Avenida El Dorado – eine normalerweise verstopfte Hauptverkehrsachse, die die Innenstadt direkt mit dem Flughafen verbindet – in ihrer westlichen Hälfte in einen grosszügigem Veloweg verwandelt (siehe Abbildungen 1 und 2).

An gewissen Orten werden Speisen und Getränke am Strassenrand verkauft. Dazu bieten Mechanikerstände Reifenaufpumpen, schnelle Reparaturen oder den Verkauf diverser Veloteile an. Auf den Strassen sind alle Arten von Fahrrädern zu sehen – von Rennvelos über Tandems bis zu Mountainbikes. Radfahrer sind alleine, zu zweit, mit der Familie oder mit dem Hund unterwegs. Meist in Sportkleidern, bilden sie eine bunte Menschenmenge.

Die Ciclovía, die heute in vielen Städten der Welt veranstaltet wird, fand 1974 zum ersten Mal in Bogotá statt und wurde von einer Gruppe junger Aktivisten initiiert.

Hier und da gesellen sich Skateboarder, Skater, Jogger und Fussgänger dazu. Das Wetter ist glücklicherweise ideal für einen sportlichen Ausflug: teilweise bewölkter Himmel und Temperaturen zwischen 17 und 20 Grad (Die Temperaturen in Bogotá bleiben das ganze Jahr über relativ konstant. Die auf 2.600 Metern am Fusse der Anden gelegene Stadt bietet daher mit Ausnahme der Regenzeit ideale Bedingungen für sportliche Aktivitäten im Freien).

Die Ciclovía als Krönung des Velofahrens

Diese Sportveranstaltung heisst Ciclovía. Es handelt sich dabei um eine Massenradsportveranstaltung, die den motorisierten Verkehr an Sonn- und Feiertagen von bestimmten Strassen der Stadt verbannt. Die Ciclovía, die heute in vielen Städten der Welt veranstaltet wird, fand 1974 zum ersten Mal in Bogotá statt und wurde von einer Gruppe junger Aktivisten initiiert. In Bogotá ist die Veranstaltung, die jeden Sonn- und Feiertag von 7 bis 14 Uhr stattfindet, vor allem bei Velofahrenden ein grosser Erfolg.

Sie ist aber auch anderen Formen des Langsamverkehrs wie Gehen, Joggen oder Inlineskaten offen. Die Stadtachsen, die temporär der sanften Mobilität gewidmet sind, werden in einem mehr als 120 Kilometer langen Rundweg, der durch alle Stadtteile führt, miteinander verbunden (siehe Karte auf Abbildung 8). Im Vergleich mit der Schweiz, erinnert die Atmosphäre an den SlowUp.

Nach Angaben der Organisatoren nehmen durchschnittlich 1.5 Millionen Menschen an jeder Ciclovía teil, was mehr als 20 % der Stadtbevölkerung entspricht.

Diese Veranstaltungsreihe, die an einem Sonntag im Jahr in 18 verschiedenen Regionen stattfindet,
fördert durch die Strassensperrung für den motorisierten Verkehr den Outdoor-Sport und die sanfte Mobilität. In Bogotá konzentriert sich die Veranstaltung auf das Stadtgebiet und nimmt genau genommen gigantische Ausmasse an: Nach Angaben der Organisatoren nehmen durchschnittlich 1.5 Millionen Menschen an jeder Ciclovía teil, was mehr als 20% (!) der Stadtbevölkerung entspricht (zum Vergleich ziehen die 18 jährlichen SlowUp-Veranstaltungen in der Schweiz durchschnittlich 500.000 Teilnehmer an). Dabei ist die Ciclovía weit mehr als nur eine wöchentliche Sportveranstaltung, sie beteiligt sich auch an der Förderung des Velos als nachhaltiges und umweltfreundliches Verkehrsmittel.

Das Velofahren als Antwort auf die endemischen Staus

Im Gegensatz zu den meisten kolumbianischen Städten, in denen die Veloinfrastruktur noch bescheiden oder nicht vorhanden ist, ist die Velokultur in Bogotá fest verankert. Schon historisch gesehen gehört die Stadt, was die Veloinfrastruktur und die Förderung des Radfahrens angeht, zu den Vorreitern in Lateinamerika. Davon zeugen die zahlreichen Infrastrukturen, die bislang geschaffen wurden, wie Velowege und -streifen, Fahrradabstellplätze an Bushaltestellen, die Markierung von Fahrradflächen an Kreuzungen und die Bevorzugung von Fahrrädern in bestimmten Situationen, insbesondere wenn
Fahrzeuge beim rechts abbiegen die Velostreifen überqueren (siehe Abbildungen 5, 6, 7).

Die Stadt hat sich zudem ehrgeizige Ziele in Bezug auf den Modal Split gesetzt und strebt an, langfristig 50 % der Fahrten mit dem Fahrrad oder anderen Formen der Mikromobilität (Scooter, Trotinette usw.) zurückzulegen. Diese Ziele sollen insbesondere die schlechte Luftqualität und die endemischen Staus bekämpfen.

Die Förderung des Velofahrens ist teilweise dazu zurückzuführen, dass die 8-Millionen Stadt Bogotá über kein starkes öffentliches Verkehrssystem verfügt, da sie keine U-Bahn hat. Sie verfügt jedoch über ein gut entwickeltes System von Schnellbussen (Bus Rapid Transit oder BRT) namens Transmilenio. Diese roten Busse mit zwei oder drei Gelenken, die im letzteren Fall eine beeindruckende Länge erreichen, fahren auf speziellen Fahrspuren durch die Stadt. Das Angebot ist zwar effizient, aber platzintensiv und begrenzt ausbaufähig.

Während der Pandemie hat die Stadt 84 Kilometer zusätzliche Radwege zu den bereits bestehenden 550 km gebaut.

Um die langfristigen Ziele zu erreichen, sind mehrere Veloprojekte in Planung, darunter der Quito Centenario, eine 25-Kilometer lange „Fahrradstrasse“, die die Stadt in Zukunft von Norden nach Süden durchqueren und das bestehende Velonetz ergänzen soll. Während der Pandemie richtete Bogotá, wie mehrere europäische Städte, temporäre Velospuren auf der Fahrbahn ein, wodurch der Platz für den motorisierten Verkehr reduziert wurde und ein Fahrradboom zu beobachten war. In dieser Zeit hat die Stadt 84 Kilometer zusätzliche Radwege zu den bereits bestehenden 550 km gebaut.

Die Ciclovía als „Enthüller des Raums“

Gegen 14 Uhr entfernten die Organisatoren der Ciclovía, die an ihren gelb und rot gefärbten Kleidern und Velos zu erkennen sind, die Verkehrsschilder und Banner, die den Zugang von den Querstrassen aus versperren, und die Autos nahmen nach und nach wieder ihren Platz in der Mitte der Strasse ein. Die Umgestaltung gewisser städtischer Achsen an Sonn- und Feiertagen ist zwar vorübergehend, aber sie macht deutlich, wie viel Platz im Alltag dem motorisierten Verkehr zugewandt wird. Zudem enthüllt sie das ganze Potenzial, das grosszügige, verkehrsfreie urbane Räume besitzen. Mit relativ einfachen Mitteln wird der Langsamverkehr in Bogotá temporär aber auch regelmässig ins Zentrum der Stadt gerückt. Da es in der Schweiz nur vereinzelte Initiativen in diese Richtung gibt, scheint die Ciclovía aufgrund ihres urbanen Kontextes, ihrer Regelmässigkeit und ihrer Ambition eine wunderbare
Inspirationsquelle für die Schweizer Städte zu sein.


Zur Autorin:

Laurence Beuchat (Text) ist eine Architektin und Stadtplanerin, deren Arbeit sich an der Schnittstelle zwischen Stadtplanung und Mobilität befindet. Dana Christen (Bilder) ist ein Softwareentwickler und Hobbyfotograf. Zusammen haben sie 2021-2022 eine fünfmonatige Veloreise durch Brasilien und Kolumbien unternommen.


Weitere Informationen über die Ciclovía und die Veloinfrastruktur in Bogotá:


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