„Suisse de Tour“ – eine Reise durch die Schweiz

Der 22-jährige Veloplus-Kunde Joel von Rotz erlebte im letzten Sommer eine grossartige Reise. Während 4 Wochen bereiste er alle 26 Kantone der Schweiz und erlebte seine ganz persönliche „Suisse de Tour“, wie er es nannte. Auf der Reise lernte er, dass man nicht weit weg muss um viel erleben zu können. Wir präsentieren seinen Erlebnisbericht, den er für uns geschrieben hat.


„Suisse de Tour“ – meine Reise durch die Schweiz

Reisebericht von Joel von Rotz

Aus dem Obwaldnertal hinaus in die weite, kleine Schweiz. Vom 12. Juli bis am 7. August 2021, rollte ich mit meinem Tourenvelo durch alle Hauptorte der Schweiz. Begleitet von etwas mürrischem Wetter ging es von der Zentralschweiz über die Alpen ins Tessin. Von dort dann nordwärts zu einer Umrundung des Bodensees und über Schaffhausen weiter in Richtung Westschweiz. Zum Schluss über Frankreich und das Wallis zurück in die Zentralschweiz.

Die Etappen meiner Reise

Welche:r Schweizer:in hat bereits jeden Kanton mindestens einmal besucht? Seit meiner Geburt vor 22 Jahren war ich gerade in einem Viertel aller Kantone. Das wollte ich ändern. Und so startete ich am 12. Juli 2021 von Kerns, meinem Heimatdorf, meine vierwöchige Tour de Suisse, in der ich alle Kantone und deren Hauptorte durchreisen wollte.

Von Kerns fuhr ich zuerst nach Wädenswil durch die Hauptorte Stans, Luzern und Zug, wo ich den Geburtstag meines Bruders bei ihm feierte. Am nächsten Tag kam bereits der erste Regen, der mich den ganzen Tag von Wädenswil mit einem „Zwischenhalt“ auf dem Sattel in Schwyz bis in den Kanton Glarus begleitete. Die Nacht konnte ich glücklicherweise in der Wärme bei einem Host von „Warmshowers“ verbringen. Am dritten Tag der Tour kamen wortwörtlich die ersten grossen Hürden. Denn der Kanton Glarus liegt am Fusse der Alpen und in der Nähe des Klausenpasses, den ich bezwingen musste um nach Altdorf zu gelangen.

Von Altdorf fuhr ich dann über den Gotthardpass nach Belinzona, wo ich einen halben Tag eine Pause einlegte. Danach gings weiter über die Stationen Chur, Appenzell, Herisau und St.Gallen, wo ich eine zweitägige Pause in einer Jugendherberge einlegte und die Altstadt erkundete. Nun kam eine weitere grosse Etappe – die Umrundung des Bodensees. Auf der deutschen Seite des Bodensees, konnte ich leckeres Obst vernaschen, und erreichte gestärkt und motiviert Schaffhausen und den Rheinfall. Von dort brachte mich meine Reise über Frauenfeld nach Zürich, wo ich zwei Tage bei einem Freund verbachte.

Von Zürich aus ging es wieder durch Eptingen, Liestal und Basel. Auch hier war der Regen ein konstanter Begleiter. Immer wieder erlebte ich lustige Momente auf meiner Reise. In einer Zeltnacht in einem kleinen Garten in der Nähe von Basel beispielsweise, waren viele Schnecken an meinem Zelt interessiert. Bevor ich am nächsten Morgen weiterreisen konnte musste ich diese vom Zelt entfernen.

Auf der Route folgten dann Delémont, und nach der Überquerung des Weissenstein-Passes Solothurn. Von Solothurn aus fuhr ich dann über Neuchâtel in die Hauptstadt Bern. Bereits drei Wochen war ich zu diesem Zeitpunkt unterwegs und die Reise näherte sich zunehmend dem Ende. Ich fuhr durch Fribourg, Lausanne und Genf, und verbrachte eine Nacht in Frankreich, auf der anderen Seite des Genfersees. Meine letzten Etappen führten mich dann durch das Wallisertal, über den Grimsel- und Brünigpass, und zuletzt nach Sarnen in Obwalden, wo ich meine vierwöchige Tour beendete.

Auf der Tour konnte ich viel erleben. Und nicht nur die Schweiz habe ich besser kennengelernt, sondern auch die Schweizer und Schweizerinnen aus all den vielseitigen verschiedenen Regionen. Und schlussendlich habe ich auch mich selbst und meine Grenzen ein bisschen besser kennengelernt.

Alle Ortschaften der Reise im Überblick

Meine gesamte Route und die verschiedenen Etappen im Überblick.

Kerns – Stans – Luzern – Zug – Wädenswil – Schwyz – Glarus – Klausenpass – Altdorf – Schattdorf – Göschenen -Andermatt – Gotthardpass – Airolo – Chiggiogna (Camping) – Bellinzona – San Bernardino Pass – Splügen (Camping) – Chur – Buchs – Gams – Altstätten SG – Appenzell – Herisau – St. Gallen – Rorschach – Bregenz – Gohren (Camping) – Friedrichshafen – Nussdorf – Bodman – Ludwigshafen – Radolfzell – Moos – Ramsen – Schaffhausen Rheinau (Camping) – Frauenfeld – Winterthur – Dübendorf – Zürich – Baden – Aarau – Zeglingen – Besuch Vater in Eptingen – Liestal – Basel Nenzlingen (Camp) – Laufen – Delémont – Weissenstein-Pass – Solothurn – Biel – Neuchâtel – Ins – Murten – Kerzers – Bern – Fribourg Moudon (Camping) – Lausanne – La Cure – Saint-Cergue – Genf -Thonon-les-Bains FR – Féternes – Port-Valais – Monthey – Sion (Camping) – Leuk – Visp – Brig – Ernen – Gluringen (Camping Brigga) – Obergoms – Grimselpass – Meiringen – Hasliberg – Brünigpass – Lungern – Giswil – Wilen – Sarnen – Kerns

Planung und Vorbereitung

Die Suisse de Tour war zuerst so nicht geplant, da ich eigentlich mit dem Velo nach Fisterra in Spanien fahren wollte. Da die Lage durch die Pandemie jedoch sehr unsicher war, krempelte ich etwa drei Wochen vor dem Start kurzerhand meine geplante Schweiz-Nordspanien-Tour zu einer Tour de Suisse um. Inspiriert war meine Tour durch die Tour de Suisse des Obwaldner Regierungsrates Christoph Amstad von 2014. So ergab sich für mich schlussendlich die vierwöchige Reise, welche durch alle 26 Hauptorte meines Heimatlandes führen sollte.

Ich gab der Tour den Namen «Suisse de Tour», weil einer meiner Brüder diesen Vorschlag gemacht hatte und ich den Namen ziemlich lustig fand (und auf keinen Fall einen Kaffeebesuch von den Organisatoren der Tour de Suisse erwarten möchte).

Meine Planung der Tour bestand aus zwei Teilen. Einerseits die Grobplanung der Gesamttour und andererseits die einzelnen Tagesplanungen, welche ich im Detail während der Tour machte. Da ich, wie bereits erwähnt, die ganze Tour innerhalb von nur knapp drei Wochen plante, war der Plan eher grob gestaltet und ich liess mich einfach treiben. Dies war schlussendlich aber kein Problem, da ich mit zwei Monaten genug Zeit für die Tour einberechnet hatte, was mir auch spontane Abstecher und Abweichungen vom Plan erlaubte. Das war eine gute Entscheidung, denn es gab ab immer wieder Routen, welche wegen dem Hochwasser im Sommer 2021 gesperrt waren und mich deshalb zu Umwegen zwangen.

Navigiert habe ich während der Tour mit dem Outdoor-Tourenplantool Komoot, weil es die Strecken zwischen Wegpunkten automatisch ausrechnet und einfache Änderungen zulässt. Für die Grobplanung fügte ich zuerst die Hauptorte aller Kantone in Komoot ein. Danach habe ich die Wegpunkte so sortiert, dass sich die Wege der Route nicht kreuzten und mich gleich zu Beginn durch ein Teil der Alpen führten. Dass der Alpenteil am Anfang meiner Tour stand war für mich wichtig, weil ich einerseits das Alpengebiet in der Schweiz liebe und es andererseits auch ein gutes Training für den Rest der Tour war.

So war diese grobe Startroute während der Reise mein Wegweiser an dem ich mich richten konnte. Die detaillierten Tagesplanungen habe ich mit den Karten-Apps SwitzerlandMobility und Swisstopo gestaltet. Beide sind grundsätzlich genau gleich, ausser das bei Swisstopo die Karten ohne Abo offline heruntergeladen werden können (bei SwitzerlandMobility wird ein Abo benötigt). Bei SwitzerlandMobility werden allerdings Umleitungen und Veloroutennummern angezeigt was eine grosse Hilfe war. SwitzerlandMobility`s Veloroutennummern haben mir in vielen Situation geholfen, da oft bei den Bahnhöfen alle Routen zusammenkommen und ich folglich herausfinden musste, welche die richtige Route ist.

Velo und Gepäck

Das Vehikel, dass mich durch die Schweiz brachte.

Unterwegs war ich mit meinem Trek 920, welches auch gleichzeitig mein erstes Tourenrad ist. Die Velotaschen wurden von Veloplus gesponsert und konnten leicht an die Gepäckträger montiert werden, welche mit dem Fahrrad mitgeliefert wurden.

In den zwei kleineren Taschen wurden Sport- und Alltagskleider, Regenbekleidung, Ladekabel, Powerbank und ein Solarpanel eingepackt, welches ich wegen dem unschönen Wetter jedoch nicht oft brauchen konnte. In den hinteren, grossen Taschen waren Koch-Utensilien, ein Kochtopf-Set, ein Gas-Kocher, Ersatz-Kanister, Nahrungsmittel, Wasser, ein Schlafsack und eine Schlafmatte eingepackt. In der kleinen Lenkertasche hatte ich Sonnencreme, mein Natel, eine Kompaktkamera, mein Portemonnaie, Schreibzeug und kleine Snacks für Unterwegs. Hinten auf dem Gepäckträger hatte ich noch mein Zelt in einem Plastiksack mit einem Spann-Set befestigt. Ein Plastiksack um besonders teure Sachen zu schützen ist nicht wirklich empfehlenswert. Man sollte daher zusätzlich einen dickeren, wasserfesten Beutel dabeihaben.

In meiner Lenkertasche hatte ich immer Platz für gesunde Snacks.

Das wichtigste beim Tourenfahren neben dem Fahren ist definitiv der Schlaf. Denn nach einer langen Fahrt möchte man nicht auf einer Steinplatte schlafen wollen. Für das Schlafmaterial hatte ich deshalb etwas mehr Geld ausgegeben. Ich hatte einen 3-Jahreszeiten-Schlafsack (Mammut Nordic OTI Spring), ein Zelt (MSR Hubba-Hubba) und eine Schlafmatte (Exped Synmat UL M Ultralight) dabei.

Weniger ist mehr

Durch meine vorherigen Erfahrungen bei einigen Camping-Trips und zwei Fahrradtouren wusste ich bereits sehr viel über das Packen für längere Touren. Man sollte sich insbesondere bewusst sein, dass man für eine zweimonatige Tour nicht Kleider und Material für zwei Monate einpackt. Das hat schlicht keinen Platz auf dem Tourenrad. Ich entschied mich für nur eine von vier Wochen zu packen. Das Material und die Kleider habe ich also genau für eine Woche ausgelegt, und dann regelmässig gewaschen. Je nachdem reicht sogar noch weniger Material.

Bei der Essenstasche sollte man darauf achten, das man noch Luftraum freihält, damit später eingekaufte Nahrungsmittel noch Platz haben. Für die Hygiene hatte ich nur das Minimum dabei: Zahnbürste, Zahnpasta, Toilettenpapier, Deo, Duschseife und ein Mikrofaser-Tuch. Man musste es schon fast geniessen, mehrere Tage nicht mehr geduscht zu haben. Die Produkte für die Reise habe ich bei Veloplus in Emmen & in Bern gekauft.

Die Übernachtungen

Während der Tour hatte ich auf verschiedene Arten geschlafen: bei Warmshowers-Hosts, in einer Jugendherberge, bei Freunden und Familie, auf Campingplätzen, Wildcamping (für eine Nacht) und auf Bauernhöfen. Am meisten verbrachte ich die Nächte auf Campingplätzen, da diese meistens fliessendes Wasser hatten und genügend eingerichtet sind. Es gab günstigere Campingplätze von 15 bis 20 Franken (zum Beispiel in den Alpen), und teurere Camping-Plätze in der Nähe von touristischen Orten für 20 bis 30 Franken. Grundsätzlich waren aber alle gut ausgerüstet. An diesen Plätzen konnte man ausserdem andere Tourenfahrende treffen und sich mit ihnen über die Erfahrungen und Erlebnisse austauschen.

Das Wildcamping habe ich nur in Fällen gemacht, in denen ich keinen Schlafplatz gefunden habe. Eine Situation von „Wild“-Camping gab es, als ich von Splügen am Rhein entlang fuhr. Als ich an Buchs SG vorbeifuhr, suchte ich langsam nach einem Platz zum campieren. Als ich dann längere Zeit nichts fand, kam ich irgendwann höllisch in den Stress. Ich fuhr und fuhr, bis ich in Gams ein paar Spaziergänger fragte, ob sie einen Schlafplatz kennen. Sie sagten, dass es das erste Mal sei, dass jemand sie so etwas gefragt hatte, aber ich solle doch den nächsten Bauern fragen. Da die Bauern glücklicherweise die Wiesen gemäht hatten, war die Chance auf einen Zeltplatz sehr hoch.

Also fragte ich die nächste Bäuerin und erhielt sofort einen Platz neben dem Garten vom Haus für das Zelt. In diesem Moment erlebte ich auch die grosszügige Gastfreundlichkeit von ihr. Sie gab mir für den Abend ein Badetuch zum Duschen und einen Schokoriegel und am Morgen gab sie mir noch Gipfeli und Kaffee. Ich hatte eigentlich nur den Zeltplatz erwartet, wurde aber mit solch einer Geste belohnt. Diese Art von Begegnungen und Gastfreundschaft erlebte ich viele Male und jedes Mal hatte ich riesige Freude daran.

Diese Tour war die erste Tour bei der ich Warmshowers ausprobierte. Warmshowers ist eine Non-Profit-Platform, welche es Personen erlaubt, Schlafplätze zur Verfügung zu stellen. Im Vergleich zu Couchsurfer oder anderen Host-Portalen, ist Warmshowers spezifisch auf Tourenfahrende ausgerichtet. Kleine Nebenbemerkung: falls man dieser Plattform beitreten möchte, muss man aktuell einen jährlichen Beitrag bezahlen.

In diesem Camper verbrachte ich die Nacht bei einer 8er-WG in Frankreich.

Mit Warmshowers konnte ich ebenfalls tolle Bekanntschaften machen. Im Kanton Glarus konnte ich bei einem älteren Pärchen ein sehr leckeres Abendessen geniessen und in Bellinzona konnte ich mit zwei anderen Reisenden bei einer Host-Familie übernachten, die mehr Matratzen für Reisende zur Verfügung gestellt hatte, als für sich selbst. In Solothurn konnte ich so mitten in der Altstadt die Aussicht von einer Dachterrasse geniessen und meine Sachen trocknen lassen und in Féternes, in Frankreich, verbrachte ich die Nacht in einem Wohnmobil von einer 8er WG von jung und alt.

Besonders die WG war sehr amüsant, da die Gastgeberin die einzige Person war, welche fliessend Englisch konnte, während die anderen einen eher limitierten Wortschatz in Englisch hatten. Die Interaktion mit ihnen war sehr lustig, da wir eine Sprachbarriere hatten und uns deshalb mit Händen, Füssen und Geräuschen verständigen mussten. Wir konnten aber trotzdem gute Gespräche führen und uns von Französischen und Schweizerischen Stereotypen bis hin zu persönlichen Geschichten unterhalten.

Die Jugendherbergen und Übernachtungen bei Freunden und bei meinen Brüdern, verwendete ich meistens um Pausen einzulegen. In St.Gallen verbrachte ich zwei Nächte mit einem Zimmer-Gspänli namens Urs in einem 6er Zimmer. Urs gab mir viele Tipps fürs Erkunden von St.Gallen. Ich folgte seinen Ratschlägen und besuchte das Kloster St.Gallen und das Textil-Museum (beides sehr empfehlenswert).

Das Kloster von St.Gallen war ein Besuch wert.

In Zürich verbrachte ich drei Nächte in der WG meines besten Freundes, wobei ich Zürich wegen starkem Regen nicht wirklich erkundet habe. Auch in der WG meines Bruders in Bern verbrachte ich zwei Nächte. Dort erkundete ich das Schweizer Alpinen Museum, welches eine Ausstellung über die Bergkultur von Nordkorea hatte.

Alleine Unterwegs

Ein Abenteuer bringt nicht nur unvergessliche Erlebnisse, sondern auch ein unbekanntes Abenteuer. In diesem Abenteuer versucht man Lösungen für Konflikte mit sich selbst und mit Mitmenschen zu finden, welche man dann im Alltagsleben integrieren kann. Wenn man dies alleine macht, ist es eine gute Möglichkeit sich selbst kennenzulernen, ähnlich wie die Instagram-Posts von Reise-Influencern mit so oberdreisten Klichée-Zitaten wie „Finde dich selbst“. Ich lernte aber diese Zitate schon fast zu schätzen, denn ich verstand während dem Fahren, was eigentlich damit gemeint war (vielleicht ist es aber doch immer noch nur fürs Geld). Während der Fahrt war ich in meinen Gedanken und schaute hin und wieder die Landschaft an. Wenn das Licht und die Kulisse passte nahm ich die Kamera hervor und knipste ein Bild davon.

Meistens aber sprach ich mit mir selbst, suchte nach Schlafplätzen oder versuchte mich zu beruhigen wenn ich am Ende meiner Nerven war. Die meisten Interaktionen waren mit mir selbst und ich glaube, dass andere Tourenfahrende dasselbe erleben. Ich musste zu Beginn der Tour akzeptieren, dass es auch Probleme geben konnte und man sich allein fühlte und das ganze auch ein bisschen normalisieren, denn ansonsten hätte ich die Tour nicht vollständig geschafft.

Neugierige Schafe am Gotthard.

Was aber viel wichtiger war, als mich selbst zu unterhalten, waren die sozialen Interkationen mit anderen Tourenfahrenden oder Neugierigen. Denn von denen hatte es sehr viele. Von einer schnellen kleinen Passfahrt mit einem Mountainbiker, bis hin zu einem Mittagsgespräch in der Altstadt Murten. Jeden Tag erlebte ich sozialen Austausch. Zu Beginn hatte ich damit sehr Mühe, da ich eher eine schüchterne Person in der Öffentlichkeit war und ich auch Mühe hatte, sozialen Kontakt mit anderen Menschen aufrechtzuhalten.

Erlebnis und Therapie

Meine Sozialphobie war der Hauptgrund dieser Tour. Während meiner Kindheit litt ich immer wieder unter Mobbing und betrieb auch dadurch starke Selbstabwertung, was dazu führte, dass ich meine Selbstachtung verlor und mich übermäßig oft „korrigierte“, damit ich in die Gesellschaften passen würde. Dies hatte meinen sozialen Umgang mit Mitmenschen stark beeinträchtigt und erschwerte mein Leben noch mehr. Ich wusste schon, dass ich damit nicht weiterleben könnte, konnte aber immer wieder kleine Erfolgsschritte machen. Während dem ersten COVID-Lockdown traf ich die Entscheidung, an mir selbst zu arbeiten. Nach dem grossen Schritt, einen Therapeuten zu besuchen, lernte ich, dass die Konfrontationstherapie eine grosse Last von meiner Phobie abnehmen könnte, was schlussendlich zu dieser Tour führte.

Wenn man alleine ist, ist man viel zugänglicher. Oft kam jemand zu mir, um mich zu grüßen, zu fragen wo ich war und wohin ich gehe. Gemäss meiner Erfahrung sind diese Begegnungen häufiger und oft intensiver, wenn ich allein unterwegs bin. Die Leute scheinen eher bereit zu sein, einen Alleinreisenden zu grüßen und Hilfe und Gastfreundschaft anzubieten, was es für mich überraschenderweise in der Schweiz viel gab. Man hatte mir Plätze zum Campieren zur Verfügung gestellt, Kaffees spendiert, Selbstgemachte und – gekaufte Gipfeli zum Frühstück gesponsert und einfach pure Neugier gezeigt, die ich sonst nie wirklich erlebt hatte. Besonders Neugier hatte ich viel erlebt, denn es ist nicht Alltag, dass ein vollgepackter Velofahrer durch die verschiedensten Dörfer fährt.

Nach gut 6 verspäteten Monaten, an denen ich diesen Bericht für Veloplus geschrieben habe und an meine Erlebnisse zurückblicke, habe ich gemerkt, wie sehr mich diese Reise geprägt hatte. Ich lernte besser auf Mitmenschen zuzugehen, nicht mehr so viel persönlich zu nehmen und allgemein, wie ich mich besser um meine eigene Gesundheit kümmern kann. Ich empfehle solche Touren zu machen, wenn man Mühe hat, mit Menschen zu interagieren. Sobald man einige Tage mit dem Tourenfahren die Fitness des Körpers aufgefrischt hat, hat man auch Energie, mit anderen Leuten zu interagieren und auch über sich selbst zu lachen.

Highlights und Begegnungen

Das Highlight vom Tourenfahren waren bei mir definitiv die vielen Interaktionen mit anderen Leuten und die immer wieder wechselnde Landschaft in der Schweiz. Eines meiner Lieblingshighlights war das Hochfahren des Walliser-Tals. Ich fuhr die Veloroute 1 entlang, die „Rhone-Route“, welche in fragwürdiger Weise als Veloroute gekennzeichnet ist. Fragwürdig, weil die Route nach Grengiols eine brutale Steigung annimmt, bei der ich das Fahrrad mehrere Male stossen musste. Die Anstrengung hatte auch damit zu tun, dass ich von Sion aus startete, bereits 72 Kilometer gemacht hatte und vielleicht kurz vor dem Kollaps stand.

Die wunderschöne Aussicht ins Fieschertal im Wallis.

Aber die wunderschöne Aussicht auf das Gebirge, gab mir die Kraft diese Strecke zu überstehen, bis ich bei meinem letzten Schlafplatz auf dem Campingplatz Brigga in Ritzingen angelangte, womit ich nach ungefähr 95 Kilometern den Tag abschloss. Zurückblickend war dieser Teil eine meiner dümmsten Ideen, aber genau darüber muss ich immer wieder lachen und das macht es zu einem meiner grössten Highlights.

Auch die Interaktionen mit anderen Tourenfahrenden waren immer wieder sehr interessant. Besonders beim Erklimmen von den Pässen, jubelten die Herunterfahrenden mich an und gaben mir Energie, den Pass zu besiegen. Und danach beim Herunterfahren, durfte ich andere motivieren. Auch in flachen Gebieten, hielt man immer wieder bei entgegenfahrenden Tourenfahrer:innen an und tauschte sich gegenseitig aus. Man fragte sich gegenseitig, von wo man kommt, wo es hingeht und wie die Reise so weit war.

Im Camping Gotthardo in Chiggiogna, Tessin, kam ich in ein Gespräch mit einem Vater und seinem Sohn aus Deutschland, beide älter als ich, welche von Italien durch die Schweiz fahren, damit sie in Basel mit der Deutschen Bahn nach Deutschland fahren können, weil ihnen das Zugticket in der Schweiz zu teuer war. Von ihnen lernte ich bereits eine andere Art von Tourenfahrenden kennen. Denn sie hatten fast ausschliesslich Second-Hand Material dabei. Ihre Kleider, ihr Zelt und das Fahrrad war alles von zweiter Hand gekauft worden, da sie ihre emotionale Verknüpfung mit dem Material lösen konnten. Wenn etwas kaputt ging, war es nicht schade und sie schauten dann weiter wie man es lösen oder ersetzen konnte.

Nach dem San Bernardino Pass in Splügen auf dem Camping „Auf dem Sand“ lernte ich zwei Niederländerinnen und eine Deutsche kennen. Es war bereits meine zweite Interaktion mit ausländischen Tourenfahrenden und auch diese war interessant. Dort tauschten wir untereinander unsere Erlebnisse aus und besonders interessierte es mich dabei, was Sie von der Schweiz hielten. Solche Gespräche hatten mir sehr geholfen, wie ich mit anderen Menschen interagiere. Nach den Gesprächen mit den beiden Deutschen und dann mit den drei Tourenfahrerinnen konnte ich erleichtert mit weiteren Menschen Erfahrungen austauschen.

Frische Früchte von Obstständen gehörten zu den kleinen Freuden meiner Reise.

Nach St. Gallen hatte ich entschieden, um die deutsche Seite des Bodensees zu fahren, damit ich einen Freund in Zürich rechtzeitig treffen konnte. Die Bodensee-Route gehört zu einer der bekanntesten Routen in der Schweiz und hatte daher sehr viele Velofahrende. Aber neben den vielen Fahrradfahrenden hatte es auch sehr viele Obststände, welche Heidelbeeren, Himbeeren, Erdbeeren, Aprikosen und Kirschen verkauften. Während der Fahrt auf der deutschen Seite des Bodensees hatte ich hier und dort ein paar Himbeeren und Kirschen gekauft, damit ich etwas zum Naschen hatte.

Da eine der Stationen Schaffhausen war, musste ich natürlich unbedingt den Rheinfall anschauen, da ich diesen vorher noch nie live gesehen hatte. Ein Reinfall war er nicht. Er war sogar noch wilder, weil es vorher stark geregnet hatte und alles daher aufwühlte. Egal ob man an einem touristenbefüllten Ort war oder irgendwo im nirgendwo, die vielen Seiten, die die Schweiz zeigte, waren eindrücklich und unvergesslich. Am Anfang war man noch in den Bergen, bestieg fast einsam Pässe, und einige Tage später rollte man an grossen Klostergebäude vorbei und musste Fahrradfahrer ausweichen auf einer Fahrrad-Autobahn. Ich lernte das Paradies, indem ich lebe wieder zu schätzen.

Nass und Gestresst

Ein Abenteuer mit nur guten, unvergesslichen Erlebnissen ist ja kein Abenteuer, es hat auch hier und dort schlechte Momente, in denen man sich auch fragt, warum man genau diese Tour macht. Da der Sommer 2021 eher ein verregneter Sommer war, musste ich immer wieder mit Regen rechnen und wurde auch oft nass.

Am zweiten Tag der Reise, von Wädenswil nach Glarus, regnete es den ganzen Tag konstant. Es schüttete wie aus Eimern und ich hatte mich entschieden in Glarus meine Nacht zu verbringen. Ach, was für eine dumme Entscheidung dies war, denn ich konnte nicht direkt nach Glarus fahren, sondern musste einen Halt in Schwyz machen. Dadurch verlängerte sich die Tagesstrecke von 50 auf 110 Kilometer und kostete mich noch ein Mobiltelefon, weil die Ladefunktion wegen eines Wasserschadens kaputtging. Ich konnte aber glücklicherweise in Glarus ein neues Mobiltelefon kaufen, die Daten vom alten Telefon aufs neue übertragen und meine Reise fortsetzen.

Oft waren die Aussichten leider nicht rosig.

An diesem Tag war ich bereits am Ende mit meinen Nerven. Ich geriet in Stress und hatte Angst, dass ich es nicht nach Glarus schaffen würde und dann irgendwo auf der nassen Strasse liegen würde. Ich konnte mich aber letztendlich mit Optimismus und Aufmunterung noch nach Glarus kämpfen.

Genau wenn man irgendwo im nirgendwo ist, die Regenkleider völlig durchnässt und das Ziel viel zu weit weg gesetzt hat, dann erlebt man das Abenteuer.

Die nassen Tagen auf der Tour waren besonders schmerzend. Mir war es egal ob es nass oder heiss war, ich fuhr bei jeder Witterung, musste aber auch mit den emotionalen Konsequenzen umgehen. Gedanken schossen mir durch den Kopf: „Warum tu ich mir das an? Wann hört der Regen auf? Warum hört der Regen nicht auf? Ich hoffe am Ende des Tages kann ich warm duschen usw…“. Würde ich es trotzdem nochmals machen? Definitiv! Denn genau das ist es, was ich am Tourenfahren liebe. Das völlige Auskotzen, das Austreten aus der Komfortzone und den Umgang damit. Man erlebt dies nicht jeden Tag. Genau wenn man irgendwo im Nirgendwo ist, die Regenkleider völlig durchnässt und das Ziel viel zu weit weg gesetzt hat, dann erlebt man das Abenteuer.

Einige Passstrassen brachten mich an meine Grenzen.

Ein Pass, der mich an meine Grenzen brachte, war der San Bernardino zwischen Tessin und Graubünden. Von der Tessiner Seite zieht sich der Pass in die Länge und hat dabei eine eher unangenehme Steigung, die ein bisschen zu steil ist. Ich musste immer wieder kurz absteigen und zusätzlich hatte ich mir fast ein Hungerrast geholt, da es ein Samstag war und ich erst nach 16 Uhr an das Einkaufen von Essen gedacht hatte. Ich konnte mich aber zum Glück im Dorf San Bernardino aufstocken und die letzten Höhenmeter des Passes machen, bevor ich dann mit der Abfahrt belohnt wurde.

Rückblick

Rückblickend auf die Tour war es eine meiner besten Lebenslektionen. Ich war sehr glücklich, als ich nach vier Wochen Tourenfahren wieder in meinem bequemen Bett schlafen konnte, aber gleichzeitig vermisse ich die Zeit auf dem Fahrrad. Ich hatte mich in die verschiedensten Situationen gebracht, mit denen ich irgendwie umgehen musste und dazu Lösungen finden, welche mir nun sogar im Alltag helfen. Aber auch konnte ich die verschiedensten Menschen treffen und Erlebnisse austauschen. Diese Tour hatte mir den Mut gegeben, weiter hinaus in die Welt zu gehen und Neues zu erkunden! Für die Möglichkeit dieser Tour bedanke ich mich bei Veloplus, da sie mir die bombensicheren Velotaschen sponserten! Vielen, Vielen Dank!


Wir bedanken uns ganz herzlich bei Joel für diesen wunderbaren Erlebnisbericht seiner Reise und gratulieren ihm herzlich dafür, dass er diese grossartige, sportliche Leistung und dieses Abenteuer durchgezogen hat!


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14 Kommentare

hans
10. Februar 2022

Tolle Reise! Hattest du in der Schule kein Französisch?

Ralph
11. Februar 2022

wow, kudos! macht Lust – wir waren zu dieser Zeit auf der velodyssée in Frankreich, auch eine wunderschöne Erfahrung

Marco
11. Februar 2022

Wunderbarer Bericht! Danke Joel. Schön zu lesen, dass es heute noch junge Menschen gibt, die mit reinem human Power die Welt und die Schweiz entdecken! Ich fuhr mit 21 mit dem Rad ans Nordkapp und zurück! Diese Sucht nach Radreisen hat mich bis heute, 30 Jahre später, nie mehr losgelassen!

Brigitte
11. Februar 2022

Hey Joel
Cool, dass du dieses Abenteuer gepackt hast! Viele Male musstest du dich überwinden, sei es wegen der Topographie oder den Begegnungen mit anderen. Und jedes Mal, wenn du so etwas geschafft hast, ist dein Selbstvertrauen gewachsen.
Ich wünsche dir noch viele solche Abenteuer mit dem Velo und wunderschöne, skurrile, bewegende und aufstellende Begegnungen!!
Machs guet!

Werner Frei
13. Februar 2022

Hallo Joel, deine Reise durch die Schweiz hat mich inspiriert und zugleich motiviert. Werde nächstes Jahr 60 Jahre alt und habe in Zukunft noch so manche Bike-Tour vor. Es müssen ja nicht gleich 4 Wochen sein. Was gibt es schöneres als bei gutem/trockenen Wetter durch unsere Heimat zu radeln. Der Horizont wird dadurch erweitert, zudem lernt man auf engstem Raum die verschiedenen Sprachen und Kulturen kennen. Raus aus dem hektischen Alltag und sich gutes tun. Sich unterwegs austauschen mit Gleichgesinnten (Bikers). Das ist mein Ding. Ich kann es kaum erwarten wenn die Tage wieder heller und wärmer werden und ich dann mit meinem Bike auf Entdeckungsreise in der Schweiz gehen kann.

Hanspeter
15. Februar 2022

Hallo Joel
Herzliche Gratulation zur grossartigen Berichterstattung über deine Veloreise durch die Schweiz. Wärst du bereit, an einer Nachmittagsveranstaltung im Rahmen unseres Kultur- und Begegnungsnachmittags von deinen Erlebnissen in Wort und Bild zu berichten. Ich könnte mir vorstellen, dass auch ältere Semester gerne mit Interesse dein Abenteuer teilen würden. Deine Kontaktaufnahme freut mich.

Joel von Rotz
16. Februar 2022

Hallo @Werner Frei

Sehr toll dies zu lesen und auch grossen Respekt für dein Alter, da nicht viele dies machen wollen/können.
Auf der Reise erlebte ich, wie der Alltagsstress sich löste. Ich musste mich nicht mehr um die Arbeit kümmern und konnte mich auf die Reise konzentrieren, oder besser gesagt erleben.

Ich hoffe deine Reise bringt dir auch Freude und neue Erlebnisse! Die Schweiz ist gleichzeitig gross & klein und du wirst viel erleben!

Joel von Rotz
16. Februar 2022

Hallo @hans

Französisch hatte ich schon, aber meine Sprachenfreude lag eher bei Englisch 🙂
Habe aber doch Gedanken, irgendwann mal mein Primar-Französisch aufzufrischen!

Joel von Rotz
16. Februar 2022

Hallo @Ralph

Die Vélodyssey klingt und sieht sehr interessant aus, hoffentlich hatte eure Tour gleich viel Freude gemacht wie bei mir!

Joel von Rotz
16. Februar 2022

Hallo @Marco

Toll zu hören!
Die Sucht verstehe ich komplett. Bei mir war es die Freiheit, die man während der Reise spürte. Die Arbeit wird zur Seite gelegt und man konnte die Reise zu 100% geniessen!

Joel von Rotz
16. Februar 2022

@Brigitte:

Vielen Dank, Brigitte!
Solche Solo-Reisen (aber auch in einer Gruppe) sind immer auf irgend eine Art hilf- und lehrreich. Besonders bei Solo-Reisen ist man auf sich selbst gesetzt und irgendwie finde ich dies auch toll.

Nebenbei habe ich schon wieder ein paar Tourenideen!

theres jöri
9. März 2022

hallo
super deine Leistung ,ich mache es auch aber etwas einfacher und mit E – Bike

Sandro Küng
31. Mai 2022

Wow Joel, ächt en coole Bricht mit viel Tüfgang hesch da gmacht. Richtig cool, han au grad Luscht uf sones Velo-Abentür 🙂

Hans Graf
8. Januar 2023

Immer wieder eindrücklich, was Menschen, mit welchen Motiven auch immer, so alles unternehmen und somit anderen auch gleich noch Mut machen, ähnliches zu tun. Seit jeher inspirieren mich solche Berichte, zwischendurch auch mal wieder aus der Komfort Zone zu treten und den inneren Schweinehund zu überwinden. Chapeau Joel und alles Gute für die Zukunft!

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