Das Dilemma der Fahrradbranche – zwischen Boom und Krise

Die Folgen von 2020 werden uns alle noch lange beschäftigen. Besonders für die Velobranche war es ein spezielles Jahr. Einerseits brachte es einen Veloboom wie noch nie zuvor, andererseits folgen dadurch auch noch nie dagewesene Hürden, bezüglich Lieferzeiten, Produktionskapazitäten und Verfügbarkeiten für das kommende Jahr. Auch Veloplus steht in diesem Jahr vor enormen Herausforderungen die es zu meistern gilt.

In jeder Krise gibt es Gewinner und Verlierer. Wenn man auf das vergangene Jahr und den bisherigen Verlauf der Corona-Pandemie zurückblickt, kommt man relativ schnell zum Fazit, dass die Fahrradbranche eine absolute Pandemie-Gewinnerin ist. Abstand halten, auf die Gesundheit achten, draussen Sport machen – das Wesen dieser Krise begünstigte Outdoorsport-Aktivitäten verschiedenster Art.  

Das Biken ist beliebter als jemals zuvor.

In allen Medien wurde über den noch nie dagewesenen Boom in der Velobranche berichtet. Doch der Boom birgt auch Gefahren und extreme Herausforderungen für die kommenden Jahre und kann schnell zu einer Krise werden. Um die tatsächlichen Auswirkungen dieser Pandemie auf die Velobranche zu verstehen braucht man Einblicke in die globalen Lieferketten und das Auge für die grösseren Zusammenhänge und Problemfelder, die damit verbunden sind.

Problematik 1: Kein Boom ohne Produktion in Fabriken

Bereits im März 2020 wurde der weltweite Fahrradboom deutlich spürbar. Die Nachfrage nach Fahrrädern und Zubehör schoss ins Unermessliche. Insbesondere die ersten Lockerungsmassnahmen in der Schweiz und die Wiedereröffnung der Läden gaben den Startschuss für die grosse Velo-Bestellschlacht. Das Problem: viele Händler stiessen bereits früh an ihre Kapazitätsgrenzen bezüglich der Verfügbarkeit von Fahrrädern.

Selbst ohne Corona wäre ein derart übermässiger Boom kaum zu bewältigen gewesen.

Der Ursprung des Problems liegt im Asiatischen Raum. Während bei uns in Europa die Krise erst im Februar und März richtig zu spüren war, wurden in China und Taiwan, wo sich viele Produktionsstätten von Rahmen, Komponenten und Zubehör grosser Fahrradhersteller befinden, Fabriken bereits zu Beginn des Jahres durch einen Lockdown geschlossen. In Taiwan mussten viele chinesische Arbeiter vom Festland coronabedingt entlassen werden, reisten in ihre Heimat und konnten durch Einreisesperren und die schwierigen Umstände nach dem Lockdown nicht so einfach zurückkehren. Dieses Problem ist auch jetzt noch nicht vollständig gelöst.

Heutzutage ist es in der Velobranche ein Standard, dass die Hersteller ihre Fahrräder nicht an einem einzigen Produktionsstandort herstellen. Alle Fahrräder bestehen aus vielen unterschiedlichen Komponenten, welche von grossen Velokomponenten-Firmen produziert werden. Auch europäische Velohersteller, welche allenfalls den Rahmen und gewisse andere Komponenten in eigenen Produktionsstätten herstellen, kommen nicht darum herum, gewisse Teile aus Asien zu bestellen. Diese komplexen Lieferketten wurden durch den Lockdown in Taiwan und China empfindlich gestört.

Viele Fabriken wurden durch die Pandemie lahmgelegt.

Es gab also eine massiv eingeschränkte Produktion, unterbrochene Lieferketten, und ein mengenmässigen Produktionsausfall von mehreren Monaten in kürzester Zeit. Gemäss Quellen des Magazins E-Mountainbike stehe die Produktion aktuell nur bei rund 80% im Verhältnis zur Produktion vor Corona.

Selbst ohne Corona wäre ein derart übermässiger Boom kaum zu bewältigen gewesen. Durch die gleichzeitige Einschränkung der Produktionskapazität und massive Lieferverzögerungen wurde die Bewältigung der Nachfrage in diesem Jahr fast zu einer Unmöglichkeit.

Die Dimensionen der Lieferverzögerungen sind gewaltig. Gemäss einer Pressemitteilung des Bike-Herstellers Commencal geben aktuell die großen Komponentenmarken wie Shimano, Sram, Fox oder Schwalbe – die alle hauptsächlich in Taiwan produzieren – Lieferzeiten zwischen 9 und 18 Monaten an, während sie normalerweise innerhalb von maximal 3 Monaten liefern können.

Zusätzlich zu den Produktionslücken in Asien folgten später dann auch Probleme hierzulande. So musste beispielsweise auch ein Schweizer Velohersteller vorübergehend einige Produktionslinien schliessen auf Grund eines firmeninternen Coronaausbruchs.

Problematik 2: Der Transport und die Logistik

Zusätzlich zu den erschwerten Produktionsumständen ist das zweite grosse Problemfeld der Warentransport. Sind die Einzelteile einmal fertig produziert, müssen sie von Asien nach Europa transportiert werden.

Sehr viel Ware gelangt über den Seeweg und riesige Frachtschiffe von Asien nach Europa und Amerika. Durch die Pandemie wurden aber nicht nur Bike-Fabriken, sondern auch diverse andere Fabriken vorübergehend stillgelegt. Dies führt nun zu einem erheblichen Rückstau. Commencal berichtet, dass der Transport von einem Container von Taiwan nach Colorado (USA), der normalerweise drei Wochen gedauert hätte, nun zwei bis drei Monate dauert.

Andreas Kessler, CEO des Veloherstellers Flyer berichtet von massiven Lieferverzögerungen: „Die Lieferzeiten für unser Material haben sich erheblich verlängert. Das betrifft 80 Prozent der Rahmen, Komponenten und Ersatzteile, die wir einkaufen. Wir sind jetzt bei Flyer teilweise bereits bei Beschaffungszeiten bis zu über einem Jahr.“

Dies ist jedoch bei weitem nicht nur ein Problem von Flyer – auch viele andere Fahrradhersteller haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Bei der Firma Trek warte man mittlerweile beispielsweise 12-15 Monate auf gewisse Bestellungen, erklärt Harald Schmiedel der Europachef von Trek gegenüber dem Handelsblatt.

Mehrere Wochen müssen gewisse Containerschiffe vor den Häfen ausharren.

Hunderte von riesigen Frachtschiffen warten teilweise mehrere Wochen vor den Häfen zum Andocken. Gleichzeitig steigen dadurch auch die Transportgebühren und Lieferungen kosten bis zu viermal mehr. Gewisse Hersteller setzen nun vermehrt auf den Luftweg, aber auch dort gibt es viele Probleme und steigende Transportkosten.

Auch Veloplus bekommt diese gewaltigen, logistischen Problem zu spüren, wie unser Produktmanager Fredy Ruhstaller berichtet: „Die Transportkapazitäten bei den Reedereien sind begrenzt, da sich derzeit zu wenig Schiffe und Container in den Abgangshäfen befinden. Die Verschiffungsdaten für Lieferungen werden kommentarlos mehrmals verschoben, da die Schiffe überbucht werden. Reservierte, aber dann doch nicht beanspruchte Frachtkapazitäten gehen an den Meistbietenden. Die Transportkosten aus Asien haben sich innerhalb weniger Wochen um Faktor 2-3 erhöht. Offerten werden nachträglich als nichtig erklärt und der Preis wird erst gültig, wenn die Ware schlussendlich verschifft ist.“

Hunderte von riesigen Frachtschiffen warten teilweise mehrere Wochen vor den Häfen zum Andocken.

Gesunkene Effizienz beim Produzieren der Ware sowie höhere Logistik- und Transportkosten, gekoppelt mit einer noch nie dagewesenen Nachfrage werden natürlich auch einen Einfluss auf den Preis von Fahrrädern und Zubehör haben. Viele Hersteller haben bereits bekanntgegeben, dass für das Jahr 2021 Preiserhöhungen für Fahrräder unumgänglich seien.

Doch nicht alle Firmen der Velobranche sind in gleichem Masse von solch logistischen Problemen des Warentransports betroffen. Der Deutsche Fahrradtaschenhersteller Ortlieb beispielsweise, hat die globalen Lieferverzögerungen durch den Lockdown im asiatischen Raum kaum spüren müssen. Ortlieb produziert alle Taschen in Deutschland und auch die meisten Rohstoffe müssen nicht importiert werden. Während dem Lockdown in China und Taiwan konnte Ortlieb also weiterhin produzieren und musste die Produktion nicht herunterfahren.

Martin Esslinger, Vertriebsleiter von Ortlieb ist optimistisch für das kommende Jahr: „Natürlich haben auch wir mit der überproportionalen Nachfrage und dadurch entstehenden Lücken in der Warenverfügbarkeit zu kämpfen. Die generelle Stimmung in der Fahrradbranche ist jedoch sehr positiv. Wir gehen auf Grund der enorm hohen Vorordermengen davon aus, dass der Boom in der Branche anhalten wird. Wichtig ist es jetzt, dass man auf jede Situation flexibel reagieren kann und gut vorbereitet ist für die steigende Nachfrage. Eine 100 prozentige Lieferfähigkeit können jedoch auch wir nicht immer garantieren.“

Problematik 3: Die Planung der kommenden Jahre

Es ist unmöglich vorherzusagen, wie sich die Pandemie entwickeln wird und was für einen Einfluss dies auf den Veloboom haben wird. Viele Hersteller gehen jedoch davon aus, dass der Boom anhalten wird. Die Bestellmengen abzuschätzen ist jedoch eine Herkulesaufgabe. Bestellt man zu viel sitzt man schlussendlich auf einem Warenberg, den man nicht los wird. Bestellt man zu wenig, hat man als Händler sobald man alles verkauft hat grosse Problem, da es auf Grund der oben genannten Problemfelder extrem schwierig ist Nachbestellungen zu machen. Und genau dies ist nun das Spannungsfeld, in dem sich alle Händler und Hersteller befinden.

Auch Kessler sieht die grössten Herausforderungen in der Planung und Verfügbarkeit der Produkte: „Aktuell sind die Planungssicherheit und die Produktverfügbarkeit die grössten Herausforderungen. Die Zulieferer sind teilweise schlichtweg ausverkauft und die Beschaffungszeiten für Rahmen, Komponenten und Ersatzteile verlängern sich. Ausserdem erleben wir derzeit extreme Kostensteigerungen bei den Frachtkosten.“

Die Bestellmengen abzuschätzen ist eine Herkulesaufgabe.

Da zurzeit die Stimmung in der Branche bezüglich eines anhaltenden Booms sehr optimistisch ist und auch bei vielen Händlern alles leergekauft wurde, sind die Bestellmengen teilweise auf das neue Jahr hin verdoppelt oder sogar verdreifacht worden. Da jedoch die Produktionsketten jetzt bereits hinter dem standardmässigen Volumen nachhinken, werden sich die Verfügbarkeits- und Lieferzeitenprobleme noch weit ins Jahr 2021, wenn nicht sogar über dieses Jahr hinaus weiterziehen.

Auch unser Produktmanager Fredy hat bereits einige Extrembeispiele dieser Lieferverzögerungen gesehen: „Die längste Vorlaufzeit, die ich bis jetzt mitbekommen habe, besteht bei einem Federgabelhersteller, der für seine Produkte für City- und Trekkingbikes eine Lieferfrist von 650 Tagen angibt.“ Für gewisse Bike-Komponenten gibt es also Lieferzeiten welche bereits bis ins Jahr 2022 führen.

Fredy Ruhstaller, Produktmanager Veloplus

„Die längste Vorlaufzeit, die ich bis jetzt mitbekommen habe, besteht bei einem Federgabelhersteller, der für seine Produkte für City- und Trekkingbikes eine Lieferfrist von 650 Tagen angibt.“

Fredy Ruhstaller

Für Händler, welche zu spät mit den neuen Bestellungen begonnen haben, droht zu einer Zeit des Velobooms paradoxerweise ein schwieriges Geschäftsjahr mit wenig Umsatz. Denn die leeren Lager lassen sich nicht füllen, weil viele Hersteller bereits so viele Bestellungen in Auftrag haben, dass keine neuen Bestellungen aufgenommen werden können.

Kompromisse, Verständnis und Optimismus

Die Velobranche hat ein unglaubliches Jahr hinter sich, ist aber auch an Grenzen gestossen. Nun gilt es die globalen Lieferketten wieder in den Griff zu bekommen, flexibel sein und stets auf Änderungen von Verfügbarkeiten und Kosten reagieren zu können.

Auch bei Veloplus haben wir für einige Produkte bereits die Folgen der Pandemie in Bezug auf Lieferverzögerungen und Verfügbarkeiten gespürt. Wir sind jedoch sehr zuversichtlich, dass sich die Probleme wieder einpendeln werden. Wir haben uns so gut wie möglich auf das neue Jahr vorbereitet und geben immer unser Bestes, um uns den ungewissen Lieferbedingungen flexibel anpassen zu können.

Auch bei der Kundschaft braucht es in dieser Zeit Verständnis und Geduld. Alle Händler und Hersteller versuchen immer ihr Bestes, um der Kundschaft den bestmöglichen Service zu bieten, und die Ware trotz aller Umstände so schnell und qualitativ hochwertig wie möglich zu liefern.

Nur durch den Kompromiss können die Herausforderungen der kommenden Jahre gemeistert werden. Wir sind optimistisch und bereit dafür!

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