Zwischen Realität und Fiktion – Gastbeitrag Claude Marthaler

Exklusiv auf unserem Blog erzählt der bekannte Velo-Abenteurer *Claude Marthaler von seinen Erlebnissen in Kuba.

Kuba ist ein ganz eigenes Land, in dem die Radfahrer selbst auf Autobahnen unbehelligt fahren können. Ein Land, in dem die Kochherde ohne Unterbruch laufen. Ein Land mit schwierigen Wirtschaftsverhältnissen, in dem die Kubaner mit zwei Währungen jonglieren müssen. So wie die Chinesen in den 80er Jahren. Das Strassennetz ist tapeziert mit unzähligen revolutionären Parolen.

Der Biss des Krokodils 

Meine Kuba-Veloabenteuer hätte enden können, bevor es überhaupt richtig begann. An diesem Abend verlasse ich in Havanna gerade einen Fussgängertunnel. In der Dunkelheit sehe ich die hohe Schwelle nicht und stürze heftig. Die Pneus platzen, beide Felgen brechen. Im Gesicht eines erschrockenen Mädchens lese ich meinen fürchterlichen Zustand ab. Als wäre ich direkt einem Horrorfilm entstiegen Zusammen mit ihrer Mutter holt sie Hilfe. Ich sammle meine verstreuten Taschen zusammen und schiebe mein Velo apathisch aus dem Tunnel.

Jetzt bin ich von hunderten ängstlichen Blicken umgeben. In meiner Brille spiegeln sich das blutige Gesicht und die eingedrückte Nase. Ich befürchte das Schlimmste. Endlich kommt ein Krankenwagen. Die Sanitäterin legt mir eine Infusion. „Das Schlimmste ist vorbei“, sagt sie, um die Stimmung aufzuhellen. Der Sanitätsfahrer weicht den Schlägen im Asphalt gekonnt aus. „Strassenlöcher sind unser tägliches Geschäft“, meint er lachend.

Die Vegetation und Umgebung in Kuba ist abwechslungsreich.

Die Vegetation und Umgebung in Kuba ist abwechslungsreich.

 

„Mutiger als ein Südamerikaner“

In der Zentralklinik Cira Garcia wird mit einer dreifache Nasenfraktur diagnostiziert. Der Arzt verabreicht mir ein Anästhetikum und sagt, dass ich mutig sei. „Ein Südamerikaner an deiner Stelle hätte geschrien. „Keine körperliche Anstrengungen bis Donnerstag“, ermahnt er mich noch, „auch keinen Sex“. Mit eingebundener Nase und Pflaster im Gesicht komme ich aus der Klinik. Ich sehe aus wie ein Guerilla-Krieger an der Front.

Ich wurde definitiv vom „Krokodil“ gebissen. So nennen die Kubaner ihre Insel aufgrund der Form. Der Unfall hat auch sein Gutes. So hatte ich, wenn auch unfreiwillig, die Chance das kubanische Gesundheitssystem zu testen. Zusammen mit der Bildung ein anerkannter Erfolg der kubanischen Revolution. Mein Start verzögert sich um zwei Woche. „Wie auch immer“, meint der Arzt, „das Leben ist wichtiger als Zeit.“

Es gibt "Velos", die sogar Claude Marthaler noch überraschen.

Es gibt „Velos“, die sogar Claude Marthaler noch überraschen.

 

Das Herz auf der Hand

„Barracoa, aie madre“, rufen alle Kubaner, die mich fragen, wohin ich mit meinem aussergewöhnlichen „caro“ (Auto) will. Den Begriff „Velo“ kennt hier niemand. Vielleicht liegen Sie mit Ihrer Mischung aus Aufregung und Unverständnisgar nicht so falsch. Der Gegenwind bis ins 1250 Kilometer entfernte Barracoa ist hart und weht ohne Unterbruch.

Mit jeder Pedalumdrehung im Osten wird die Vegetation üppiger, der Wind stärker und heisser. Das gemächliche Verkehrstempo und die respektvolle Fahrweise machen Kuba zu einem tollen Platz für Veloabenteurer. Ich durchquere Rohrzucker-Felder, fahre unter tropischen Bäumen und erfrische mich mit „guarapo“ (Zuckerrohrsaft) und „battuda“ (Frappé aus Ananassaft und Milch). Wie die brennende Sonne machen auch die Kubaner keine halben Sachen. Sie trinken stark gesüssten Eistee.

Obwohl Campieren offiziell verboten ist, schlage ich es täglich in der Nähe von Wohnsiedlungen auf. Man lädt mich zu einem Kaffe, manchmal zu einem Teller mit Reis, Bohnen und Schweinefleisch ein. Immer wird mir ein Eimer mit kaltem Wasser zur Verfügung gestellt. Und nicht selten bestehen die Leute darauf, dass ich mich ins, mit einem Ventilator ausgestattetes Schlafzimmer, lege, während die ganze Familie am Boden schläft.

Der Küste entlang.

Der Küste entlang.

 

System-Kritik hinter vorgehaltener Halt

Einige Kubaner stellen aus alten Auto-Antriebsriemen Veloreifen her. Mit einem Messer! Zeichnen sie das Profil und drucken „Made in Canada“ auf ihr Produkt. Mit diesem „Criollo“ (Handwerk) helfen sich die Menschen in der weiterhin prekären wirtschaftlichen Lage selbst. Die Hauptinsel der Karibik, immerhin doppelt so gross wie die Schweiz, leidet unter der Isolation. Zwar erreichten vor zehn Jahren die ersten DVDs, Handys und Laptops die Insel und seit den 90er Jahren gibt eine Öffnung für den Tourismus. Trotzdem bleibt Kuba  isoliert.

Die Kubaner, die gelernt haben sich nur auf sich selbst und den eigenen Einfallsreichtum zu verdoppeln, haben dafür klare Worte. Sie sprechen von „inventar“ und „resolvar“. Sie erwarten keine Veränderungen. Und so produzieren sie selbst aus recyceltem Material, weil eine offizielle Produktion aufgrund des US-Embargos nicht möglich ist. Während sich die einen über die Behörden beklagen, erwähnen andere die Korruption, das wirtschaftliche Scheitern des Sozialismus und sogar die langsame Entwicklung durch die Führung. Ein ironisches Lied hat Fidel und Raùl zum Thema, ohne die Beiden konkret zu nennen.

„Die Revolution ist wie ein Fahrrad…“

Angesichts der anhaltenden Krise, weht seit zwei Jahren ein Wind der Liberalisierung über die Insel. In allen städtischen Gebieten entstehen kapitalistische Elemente. Inoffiziell. Unter Treppen, an Fenstern und Türen tummeln sich Bücherverkäufer, Feuerzeug-Mechaniker und Uhrmacher. Es gibt Friseure und Pizza-Bäcker. Deren genormte Standard-Pizza gibt es im ganzen Land. Alles ist reglementiert. Sogar die Tätigkeit mit der Nummer 74 verlangt jetzt eine Lizenz und vereint zwei Jobs, die bisher getrennt waren. „Luftkompressor-Bediener“ und „Pneu- und Schlauch-Reparateur“. „Eine Revolution ist wie ein Fahrrad“, sagte Che Guevara, „rollt sie nicht vorwärts und bleibt sie stehen, fällt sie um.“

 

Zur Person

*Claude Marthaler hat schon mehr als 15 Jahre seines Lebens (rund 130’000 Kilometer) im Velosattel verbracht. Ende April ist ist der 51-Jährige von Reise durch Kuba heimgekehrt.

Claude hat zwei deutsche Bücher geschrieben, wovon eines bei uns erhältlich ist: „So weit das Rad uns trägt – 3 Jahre per Fahrrad durch Afrika und Asien” . Das Buch über seine jüngstes Projekt, wovon die Kuba-Reise Bestandteil war, ist vor kurzem mit dem Titel „L’homme-frontière, du cap Nord à Istanbul, 10‘000 km à vélo aux confins orientaux de l’Europe“ erschienen.

 

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